Femizide

„Bei der Risikoeinschätzung ist Deutschland ein Entwicklungsland“

Femizid heißt es, wenn Frauen Opfer tödlicher Gewalt werden. Täter sind meist Partner, Ex-Partner oder verliebte Bekannte. Wie könnten wir potenzielle Opfer besser schützen?

Von Christina Sticht Veröffentlicht:
Vanessa Münstermann wurde 2016 von ihrem Ex-Freund mit Schwefelsäure verätzt.

Vanessa Münstermann wurde 2016 von ihrem Ex-Freund mit Schwefelsäure verätzt.

© picture alliance / Julian Strate

Göttingen. Sie wurde mit Brandbeschleuniger übergossen, angezündet und mit Messerstichen traktiert: Auf grausame Weise tötete ein Mann in Göttingen eine Frau, der er zuvor nachgestellt hatte. Der 52-Jährige lauerte der 44-Jährigen auf der Straße vor ihrer Arbeitsstelle auf und griff sie an – als eine Kollegin zur Hilfe eilte, tötete der deutsche Gelegenheitsarbeiter auch sie mit Messerstichen. Als Motiv für den Doppelmord vor knapp zwei Wochen in aller Öffentlichkeit vermutet die Polizei, dass die 44-Jährige den an ihr interessierten Mann zuvor mehrfach abgewiesen hatte.

Durchschnittlich ein Opfer pro Tag

Es ist kein Einzelfall, dass Frauen Gewalt erleben, wenn sie Annäherungen zurückweisen oder sich trennen wollen. Nach Zahlen des Bundeskriminalamtes (BKA) versucht im Durchschnitt jeden Tag ein Mann, seine Frau oder Ex-Partnerin umzubringen. 2018 wurden bundesweit 123 Frauen von ihren Lebensgefährten oder Ex-Männern getötet, hinzukommen 208 Mord- beziehungsweise Totschlagsversuche in Partnerschaften.

Oft verschleiern Begriffe wie Beziehungstat oder Familiendrama diese Gewalt gegen Frauen.

Schon sechs Tage vor dem Göttinger Gewaltverbrechen hatte der 52-Jährige seinem späteren Opfer Angst gemacht. Er war auf den Balkon der Bekannten geklettert und hatte Gegenstände heruntergeworfen. Die Frau zeigte ihn an. Die Polizei reagierte mit einer sogenannten Gefährderansprache und einem Platzverweis.

Die Opfer sind leider häufig auf sich allein gestellt, auch wenn sie die Polizei und andere Institutionen eingeschaltet haben.

Axel Peter, ehemaliger Leiter der Mordkommission Bremen, Profiler und Autor

Streifenpolizisten hätten den Mann in seiner Wohnung besucht, sagt der Sprecher der Staatsanwaltschaft Göttingen, Andreas Buick. „Es gibt nicht die geringsten Anhaltspunkte dafür, dass die Polizei im vorliegenden Fall einen Fehler begangen hat und die Gefährlichkeit des Mannes hätte früher erkennen müssen.“ Er war in den 1990er Jahren mehrfach wegen Vergewaltigung verurteilt worden, bis 2001 saß er eine Gefängnisstrafe ab, lebte aber danach unauffällig. Diese Vorgeschichte dürfte den ihn besuchenden Beamten bekannt gewesen sein, sagt der Oberstaatsanwalt. Der Mann habe sich einsichtig gezeigt und keine Bedrohung ausgesprochen.

„Die Opfer sind leider häufig auf sich allein gestellt, auch wenn sie die Polizei und andere Institutionen eingeschaltet haben“, beobachtet der frühere Leiter der Bremer Mordkommission, Profiler und Autor Axel Petermann. Polizeischutz sei nur in Ausnahmefällen möglich, und nur selten reichten die strafrechtlichen Verfehlungen eines Täters aus, um gegen ihn einen Haftbefehl zu erlassen beziehungsweise ihn zum Schutz der Allgemeinheit in eine psychiatrische Klinik einzuweisen.

Im Fall des Säure-Opfers Vanessa Münstermann geschah der Angriff Anfang 2016, kurz nachdem die junge Frau aus Hannover ihren Ex-Freund wegen Stalkings und Gewalt angezeigt hatte. Die heute 30-Jährige fürchtet den Tag, an dem der Täter aus dem Gefängnis entlassen wird.

Ende 2016 versuchte ein Deutsch-Kurde in Hameln, seine Ex-Frau mit Messerstichen und Axthieben zu töten und schleifte sie anschließend mit einem Seil um den Hals hinter seinem Auto her. Dem Mordversuch waren Gewalt in der Beziehung, ihre Trennung von ihm, Streit um Unterhalt und sogar Todesdrohungen vorausgegangen.

Gefährdungsanalyse eher selten

„Man kann solche Taten nicht grundsätzlich verhindern, aber man kann die Wahrscheinlichkeit verringern“, sagt Kriminalpsychologe Jens Hoffmann. Der Stalking-Experte ist Leiter eines Instituts in Darmstadt, das entsprechende Schulungen und Fallberatungen anbietet. „Bei der Risikoeinschätzung sind wir in Deutschland noch ein Entwicklungsland“, kritisiert er.

Längst nicht alle Polizeidienststellen hätten Stalking-Beamte, die typische Muster und Warnsignale erkennen könnten. Dazu seien Hintergrundwissen, Recherche und mehrere Gespräche mit dem Gefährder notwendig. Eine solche Gefährdungsanalyse werde eher selten vorgenommen, ist auch Petermanns Erfahrung aus der Polizeipraxis vor seinem Ruhestand.

Seit 2015 zeichnet das BKA jedes Jahr ein Lagebild von Gewalt in Partnerschaften. 2017 waren fast 114 000 von knapp 139 000 Opfern weiblich. Die Delikte umfassten unter anderem Stalking, sexuelle Nötigung, Vergewaltigung, Bedrohung, Körperverletzung sowie Mord und Totschlag. Das Lagebild für 2018 soll Ende November vorgestellt werden.

Nach einer UN-Studie wurden im Jahr 2017 weltweit 87 000 Frauen getötet, davon 50 000 von ihrem Partner oder von Familienangehörigen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) benutzt den Begriff Femizid, wenn von Morden an Frauen die Rede ist, weil sie Frauen sind.

In vielen südamerikanischen Ländern ist Femizid bereits ein eigener Straftatbestand. Die Linksfraktion im Bundestag plädiert dafür, den internationalen Begriff auch in Deutschland zu verwenden, wenn Tötungen von Frauen durch „hierarchische Geschlechterverhältnisse“ motiviert sind. Auch die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes fordert stärkere Anstrengungen im Kampf gegen Femizide. (dpa)

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