Panorama
Bhutan verlässt das Glück
Lange war Bhutan von der Außenwelt abgeschottet – vieles hat sich in den vergangenen 20 Jahren aber verändert. Tradition und Moderne vermischen sich im Himalaya-Königreich allmählich. Das hat Folgen für das als Staatsziel ausgegebene Glück der Bhutanesen.
Veröffentlicht:THIMPHU. Das Jahr 1999 war ein Wendepunkt für Bhutan. Mit der Einführung von Fernsehen und Internet begann damals die Modernisierung des kleinen Himalaya-Königreichs.
Im selben Jahr nahm auch der erste Psychiater des Landes, Chencho Dorji, die Arbeit auf. Für die Ausbildung hatte er nach Indien und Sri Lanka gehen müssen.
Der vier Jahre ältere Bruder von Dr. Chencho – wie er landläufig genannt wird – litt unter Schizophrenie, und aus Hilflosigkeit hatte ihn seine Familie jahrelang in seinem Zimmer eingesperrt. Dr. Chencho wurde Psychiater, um ihm zu helfen.
„Es gab einfach keine andere Möglichkeit, dass mein Bruder behandelt wird“, sagt der Mediziner in seinem Büro im allgemeinen Krankenhaus der Hauptstadt Thimphu. „Es gab niemanden in Bhutan.“
Glücksministerium
Das buddhistische Königreich ist ein armes Land mit einer erst zehn Jahre alten Verfassung, die unter anderem eine Waldbedeckung von mindestens 60 Prozent des Landes festschreibt. Bekannt ist Bhutan aber vor allem dafür, dass es das größtmögliche Glück seiner Bürger zum Staatsziel erklärt und ein Glücksministerium gegründet hat.
Alle fünf Jahre wird anhand von Umfragen das Bruttonationalglück gemessen. Touristen können Souvenirs kaufen, auf denen „Bhutan – Glück ist ein Ort“ steht.
Aber längst nicht alle Bhutanesen sind glücklich. Die Suizidrate ist zuletzt gestiegen und inzwischen manchen Experten zufolge unter den 20 höchsten der Welt. Suizid ist die sechsthäufigste Todesursache in Bhutan – international liegt er an 18. Stelle. Dabei hat Suizid nach buddhistischem Glauben schlimme Auswirkungen auf künftige Leben.
„Alarmierend“ nennt Dr. Chencho die Zahlen. „Man muss aber bedenken, dass wir in den letzten 20 Jahren eine enorm schnelle Entwicklung von einer landwirtschaftlich geprägten, mittelalterlichen Gesellschaft hinein in die Welt des 21. Jahrhunderts genommen haben.“
Großfamilien zersplitterten
Damit sei der Zusammenbruch traditioneller Lebensweisen und Werte einhergegangen, die bisher die Gesellschaft zusammengehalten hätten. Großfamilien zersplitterten, junge Menschen zögen auf Arbeitssuche aus den Dörfern in die Städte, der Materialismus nehme zu – „Stress des modernen Lebens“, sagt Dr. Chencho dazu. Auch die 2008 eingeführte Demokratie belaste die Menschen.
Der bislang letzte Bericht über Bhutans Bruttonationalglück, vom Jahr 2015, ergab auf der Glücksindexskala von null bis eins einen Wert von 0,756 – mit anderen Worten: Das Land war zu knapp 76 Prozent glücklich.
Das war eine leichte Steigerung gegenüber dem vorherigen Bericht, die die Autoren vor allem auf zunehmendes materielles Wohlergehen sowie verbesserten Zugang zu Strom, Trinkwasser und anderen staatlichen Leistungen zurückführten.
Allerdings, hieß es, seien die Ergebnisse im Bereich „psychologisches Wohlergehen“ – eine der neun „Domänen“ des Bruttonationalglücks – deutlich schlechter ausgefallen. Mehr Bhutanesen waren dem Bericht zufolge „knapp glücklich“ (47,9 Prozent) als „weitgehend glücklich“ (35,0 Prozent).
Die Zahl der „unglücklichen“ Menschen (8,8 Prozent) war zudem größer als die der „zutiefst glücklichen“ (8,4 Prozent). Am wenigsten glücklich waren demnach Bauern und junge Menschen.
Heiler statt Psychiater
Dr. Chencho ist nicht mehr der einzige Psychiater Bhutans, sondern inzwischen einer von vieren. Weitere werden ausgebildet, ebenso wie die ersten Therapeuten und Sozialarbeiter des Landes. Psychologen gibt es bisher aber noch keine.
Trotz aller Fortschritte gebe es noch viel zu tun, sagt Dr. Chencho. Er kritisiert, die Regierung investiere in psychische Gesundheit zu wenig Geld und Mühe: „Das ist halbherzig.“ Es gebe aber auch kulturelle Hürden. „Psychische Krankheiten sind immer noch mit viel Stigma und Vorurteilen behaftet“, erklärt er. Viele Bhutanesen gingen lieber zu einem religiösen Heiler als zu ihm. Die meisten wüssten gar nicht, was ein Psychiater ist.
„In unserer Nationalsprache und den verschiedenen Dialekten gibt es keine Begriffe, um über psychische Gesundheit zu sprechen“, erklärt die junge Journalistin Namgay Zam. „Es gibt keine Möglichkeit, zu sagen: Ich bin deprimiert.“
Viele Bhutanesen sähen es zudem als Zeichen der Schwäche an, über die eigenen Gefühle zu sprechen. Zam moderiert eine englischsprachige Radiosendung namens „Mind Over Matter Bhutan“, in der sie mit Experten und Zuhörern über Fragen der psychischen Gesundheit spricht. Sie plant zudem neue Projekte, um auch Nicht-Englischsprecher zu erreichen.
Ähnlich wie Dr. Chencho treiben persönliche Erfahrungen sie an. „Ich habe in den letzten paar Jahren so viele Freunde durch Selbstmord verloren“, erzählt Zam.
In Bhutans Hauptstadt Thimphu lebt etwa ein Viertel der rund 800.000 Einwohner des Landes. Es gibt hier keine Ampeln, inzwischen aber schicke Cafés und Hotelbars, in denen neben Touristen auch Bhutanesen sitzen, die – statt Buttertee oder den selbstgebrannten Schnaps Ara – Cappuccino oder Bier trinken und auf ihre Smartphones starren.
Die meisten Menschen tragen die traditionelle Kleidung, bei der die Röcke der Männer kürzer sind als die der Frauen. Für Staatsbedienstete und Fremdenführer ist die Tracht Pflicht. Jeans und T-Shirts sind aber inzwischen keine Seltenheit mehr.
Sozialstrukturen gehen kaputt
„Unser Lebensstil verändert sich gerade so sehr“, meint Namgay Zam. „Wir stehen mit einem Bein in der Vergangenheit und dem anderen in der Zukunft, und wir sind uns nicht sicher, wohin wir gehören.“
„Das Zugehörigkeitsgefühl, die Kultur und die Traditionen, die wir gemeinsam haben, sind das Wichtigste für unsere Gesellschaft“, erklärt Pema Bazar, ein Programmplaner im Glücksministerium.
Das Land sei zum Beispiel bisher ohne Krankenversicherung, Arbeitslosengeld und Altersheime ausgekommen, weil sich Familien und Freunde gegenseitig helfen.
Das Öffnen Bhutans für die Außenwelt sei unvermeidbar gewesen, findet Bazar. Sie mache die Sozialstruktur aber kaputt. „Insofern wären wir wohl besser abgeschottet geblieben“, sagt er.
Dasho Benji hat eine etwas andere Sicht auf das Ganze. „Ich bin kein großer Freund dieses Glücksindexes“, sagt der Umweltschützer, frühere Diplomat und enge Berater des vorherigen Königs.
Als dieser bereits 1974 das größtmögliche Glück der Bhutanesen zum Staatsziel erklärte, habe er nicht individuelles, sondern kollektives Glück gemeint. (dpa)