50 Jahre Rettungswagen
Das "Rendezvous-System" erobert die Welt
Ein Oberarzt an der Chirurgischen Universitätsklinik Heidelberg hatte vor 50 Jahren eine Idee, die die Notfallmedizin revolutionierte. Heute stehen die Notärzte der Region wieder am Scheideweg.
Veröffentlicht:HEIDELBERG. Es war im Jahre 1964, als ein Notarzt in Heidelberg erstmals in einem eigenen Fahrzeug zum Unfallort fuhr. Das bis heute bundes- und sogar weltweit praktizierte "Rendezvous-System" war geboren - es sollte die Notfallmedizin revolutionieren.
Ein Oberarzt an der Chirurgischen Universitätsklinik Heidelberg, Dr. Eberhard Gögler, hatte diese geniale Idee, um die prähospitale Notfallversorgung flexibler und damit effizienter zu machen: Notarzteinsatzfahrzeug (NEF) und Rettungswagen (RTW) fahren getrennt an, die Notfallversorgung wird gemeinsam gemanagt und der Transport in die Klinik je nach Erfordernissen mit oder ohne ärztliche Begleitung im Rettungswagen durchgeführt.
Ein VW mit legendärem Kennzeichen
"Stellen Sie sich vor, Sie werden zu einem Patienten mit Herzbeschwerden gerufen, die sich dann aber nur als Synkope herausstellen und der Transport gar nicht ärztlich begleitet werden muss. Ist der Arzt mit dem eigenen Fahrzeug da und somit nicht an den Rettungswagen gebunden, steht er schon für den nächsten Einsatz bereit", begründet Professor Erik Popp, der Leiter der Sektion Notfallmedizin an der Anästhesiologischen Klinik der Uni Heidelberg die Sinnhaftigkeit des Systems, das sich deshalb allerorten durchgesetzt hat.
Doch bevor das erste Notarzteinsatzfahrzeug - ein VW mit dem legendären polizeilichen Funkrufnamen HD (für Heidelberg) 10 - auf die Straßen geschickt wurde, gingen bereits deutlich früher wesentliche Impulse für die prähospitale Notfallmedizin von Heidelberg aus.
Im Jahre 1938 hat der Chirurgische Ordinarius am Heidelberger Uniklinikum, Professor Martin Kirschner, auf einem Chirurgen-Kongress erstmals gefordert, dass "nicht der Verletzte so schnell wie möglich zum Arzt muss, sondern der Arzt zum Verletzten, da die Lebensgefahr in unmittelbarer Nähe des Ereignisses am größten ist".
20 Jahre nach dieser Forderung hat der Heidelberger Chirurgische Ordinarius K-H Bauer das erste "Klinomobil" entwickelt, ein Operationssaal auf vier Rädern, in welchem sieben Mann Besatzung - mehrere Chirurgen und Pflegepersonal - Notoperationen gewissermaßen auf der Straße durchführen sollten.
Zu teuer und schwerfällig
Doch das Fahrzeug war viel zu schwerfällig und zu teuer, um für die mobile operative Versorgung am Unfallort einsetzbar zu sein. Es fand später seinen Platz an der Autorennstrecke Hockenheimring, wenn es galt, Verletzte zu versorgen.
Im Frühjahr 1964 vermeldete die Heidelberger Tagespresse: "Das Klinomobil hat einen wendigen kleinen Bruder bekommen. Ein weißer VW mit Blaulicht und Martinshorn steht Tag und Nacht bereit, um im Ernstfall sofort auszurücken…" In den Anfängen war der VW Käfer, von einem Privatmann geschenkt, auf Gögler privat zugelassen, der das Auto auch selbst zum Unfallort steuerte.
Die Männer der ersten Stunde erinnern sich an die Anfänge der Ära des HD-10. "Alles war neu. Es gab keinen Vorgänger, kein Beispiel, kein Gesetz, es war alles gegen das Gesetz, gegen bürokratische Regel", beschrieb der Heidelberger Polizeibeamte Kurt Cerdini beim 30. Geburtstag des HD 10 die Anfänge.
Professor Stefan Wysocki, langjähriger Chirurgischer Chefarzt am Heidelberger Krankenhaus Salem und Ehrenpräsident der Bezirksärztekammer Nordbaden zur Ärzte Zeitung: "Ich war damals junger Assistent in der Chirurgie und mir wurde von meinem Chef gesagt, ab sofort hätte ich Notarzteinsätze zu fahren. Also habe ich es getan".
Wer Dienst hatte, bekam den VW über Nacht mit nach Hause und konnte ihn dann auch privat nutzen. So hatte man auch einen Nutzen, denn Geld gab es für die Einsätze nicht. Es kam auch durchaus vor, dass der HD 10 vor Heidelberger Kneipen gesichtet wurde.
Die Polizei hatte den Dienstplan und verständigte den diensthabenden Notarzt über Funk oder Telefon. Damals ging es vorrangig um Verkehrsunfälle: "Wir kamen am Unfallort an und legten dort gleich los: Wir reanimierten, intubierten und legten eine Infusion."
Die Ausstattung war damals primitiv, man hatte lediglich Beatmungsbeutel, Infusionsbesteck, Intubationsmaterial. "Das alte Dreipunkt-EKG zur Aufzeichnung elektrischer Impulse hat auch ausgeschlagen, wenn eine Straßenbahn vorbeifuhr, selbst wenn der Patient schon tot war", erinnert sich Wysocki.
Junger Arzt auf Irrfahrt
Stieg man dann nach Erstversorgung in den "Sanka" um, blieb der VW an der Unfallstelle zurück und musste irgendwie zurückgeholt werden. Dieser Umstand und die Irrfahrt eines jungen ortsunkundigen Notarztes, der in eine Gemeinde nahe Heidelberg gerufen und diese nicht gefunden hatte, führte dazu, dass das NEF Anfang der 80er Jahre von Karl Hillger, damals erfahrener Pfleger in der Chirurgie mit Erste-Hilfe-Ausbildung beim DRK fortan gefahren wurde, der das Steuer erst ein Viertel Jahrhundert später aus der Hand gab.
"HD 10 - Was? Wo?" Das war der Satz, den "Charly" Hillger noch heute im Schlaf beherrscht, denn den sagte er jahrzehntelang immer dann, wenn ihn der Funkruf der Polizei für einen Notfall ereignete: egal wo, egal um welche Uhrzeit. Hillger sprang in seinen Overall und seine Stiefel, holte den diensthabenden Notfallarzt zu Hause ab und beide rasten zum Unfallort. Der beherzte Pfleger konnte mit anpacken.
Er hatte den Notfallkoffer übersichtlich geordnet, "damit die Ärzte wussten, wo sie hinlangen mussten". Er kümmerte sich aber auch um die Wartung der Einsatzfahrzeuge und war Meister in der Improvisation. Eines der Nachfolgemodelle des VW - einen Mercedes Benz - stattete er kurzerhand selbst mit Martinshorn und Blaulicht aus, die er auf einen Skiständer montierte.
Ein Citroen-Kastenwagen erfüllte erstmals die noch heute gültige DIN-Norm für Rettungswagen: Der Patient musste von allen drei Seiten erreichbar sein und eine bestimmte Stehhöhe war vorgeschrieben.
Hillgers Augen leuchten, wenn er von diesen Zeiten erzählt, auch wenn er gegen bürokratische Hürden immer wieder ankämpfen musste. Vier Jahre lang hat er das NEF alleine gefahren, Tag und Nacht und an den Wochenenden war er in Bereitschaft. Dann wurde es zuviel und nach langen Kämpfen mit der Verwaltung und einer Abmahnung wurden zwei weitere Pfleger-Stellen für den NEF-Einsatz geschaffen.
Wurden in den Anfangsjahren 400 Einsätze mit dem HD 10 in der Regel zur Erstversorgung von Unfallopfern gefahren, sind es heute 3500 Einsätze - also etwa zehn am Tag. Die ärztliche Leitung der Sektion Notfallmedizin hat seit 2009 der Facharzt für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Professor Erik Popp, inne. Die Einsatzfahrzeuge und die begleitenden Rettungsassistenten und -sanitäter "stellt" das Deutsche Rote Kreuz.
Das Einsatzspektrum hat sich stark gewandelt. Die traumatologischen Ereignisse sind stark (auf 16 Prozent) zurückgegangen, während die nichttraumatologischen inzwischen drei Viertel aller Einsätze ausmachen.
Oft geht‘s um das Leben von Kindern
Führend sind hier akute Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Herzinfarkt, Absolute Arrhythmien, Krampfleiden, Blutzucker- und hypertensive Entgleisungen, maligne Rhythmusstörungen und Hirnblutungen.
Auch die "End-of-Life-Begleitungen" etwa bei Tumorerkrankten mit Schmerzen und Atemnot gehören zur notärztlichen Aufgabe. Freizeitunfälle beim Sport wie Fahrradstürze nehmen einen größeren Teil in der traumatologischen Versorgung ein. Drei bis fünf Prozent der Einsätze sind Kindernotfälle, die besonders belasten.
Das Anforderungsprofil an den Notarzt ist hoch. Popp:" Er soll wissen, wie man palliative Medizin macht, wie man ein einjähriges Kind mit Sepsis intubiert oder einen Weg legt, wie man ein Trauma versorgt, aber auch die S-3-Leitlinien für das Polytrauma, die Lungenembolie und das Akute Koronarsyndrom draufhaben."
Die notfallmedizinische Versorgung unterliegt einem landesweiten Qualitätsmanagement, für das seit 2013 die SQR-BW zuständig ist.Versorgungskonzepte zur Optimierung des Notfallmanagements wie etwa das Projekt "Prähospitale Lyse bei akutem Myocardinfarkt" wurden in Zusammenarbeit mit der Medizinischen Uniklinik in Heidelberg entwickelt.
Als Spezialisten für die Notfallmedizin sieht Popp die Anästhesisten und Intensivmediziner, die von Anfang an mit den Grundanforderungen vertraut sind wie Zugang legen, für Atemsicherung sorgen und akute Schmerzzustände bekämpfen. Dies spiegle auch die Einsatzrealität wider: 70 Prozent der Notärzte sind Anästhesisten, der Anteil der Internisten nimmt indes stetig zu.
Die Ausbildung der begleitenden Rettungssanitäter wird ebenfalls stetig verbessert. Neuerdings können sie sich zum Notfallsanitäter ausbilden lassen und damit weitreichendere Aufgaben übernehmen. Die Zahl der Einsätze hat sich im Vergleich zu den Anfängen verzehnfacht.
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