Tagebuch eines AiW als Seenotretter

Der erste Einsatz, 60 Gerettete – und ein MedEvac wegen Infarktverdachts

Das Seenotrettungsschiff Humanity 1 hat in einem Einsatz 60 Menschen gerettet. Im Tagebuch berichtet Jörg Schmid, angehender Allgemeinmediziner und Arzt an Bord, von 1.000 Kilometern, einem MedEvac-Einsatz und einem Barbershop.

Jörg SchmidVon Jörg Schmid Veröffentlicht:
Jörg Schmid bei der Versorgung eines Geretteten (die Person hat dem Foto zugestimmt).

Jörg Schmid bei der Versorgung eines Geretteten (die Person hat dem Foto zugestimmt).

© Judith Büthe / SOS Humanity

Donnerstag, 1. August 2024. Das Seenotrettungsschiff Humanity 1 ist kaum im Mittelmeer unterwegs, schon hat es seinen ersten Rettungseinsatz: 60 Menschen in Seenot rettet das Team in internationalen Gewässern nördlich der libyschen Küste. Mit im Einsatz ist Jörg Schmid, in der Weiterbildung zur Allgemeinmedizin und auf dem Schiff als Arzt im Care Team. Die italienischen Behörden weisen der Humanity 1 den Hafen von Civitavecchia, nördlich von Rom zu.

Samstag, 3. August 2024. Am Morgen findet Jörg Zeit, über seinen ersten Einsatz nachzudenken und für sein Tagebuch zu berichten. Einen Tag später, am Sonntag, nach gut dreieinhalb Tagen Fahrt, wird das Schiff in Civitavecchia eintreffen und die Geretteten ausschiffen können.

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Schönen guten Morgen vom Vorderdeck der Humanity 1. Es ist kurz vor acht. Die Sonne ist schon ganz gut am Horizont. Und es ist so viel passiert. Wir hatten die Seerettung. Wir hatten eine Notfall-Evakuierung. Und wie es dazu kam, das erzähle ich euch jetzt.

„All Crew! All Crew! Get Ready for Rescue!“

Als wir vor ein paar Tagen unterwegs in die eigentliche Such- und Rettungszone waren, stand ich abends mit ein paar Leuten vorne und wir haben überlegt, ob wir am nächsten Morgen noch ein kleines Workout machen. Ein bisschen Sport, um uns fit zu halten. Und ich habe im Scherz gesagt: „Mal sehen, ob das was wird. Ich habe da so ein Bauchgefühl.“

Jörg Schmid beim Look-out nach Menschen in Seenot.

Jörg Schmid beim Look-out nach Menschen in Seenot.

© Judith Büthe / SOS Humanity

Und tatsächlich, am nächsten Morgen, kurz vor sechs, die meisten haben noch geschlafen, höre ich so im Halbschlaf durch die Funkgeräte: „All Crew! All Crew! Get Ready for Rescue!“

Ich bin dann rausgekommen, habe mir meine Sicherheitsausrüstung angezogen und direkt neben uns war ein völlig überbesetztes Boot. Ein Boot mit 60 Leuten, wie wir dann rausgefunden haben, an Bord. Und ja, dann ging es los. Alles, was wir trainiert haben, worauf wir uns vorbereitet haben. Wir haben die Schnellboote ins Wasser gelassen. Alle Stationen haben sich vorbereitet. Und dann kamen auch sehr schnell schon die ersten Menschen an Bord. Zuerst Frauen und Kinder.

Und dann haben mich auf einmal zwei große braune Augen aus einem Lockenkopf angeschaut. Ein kleines Mädchen, ein unglaublich mutiger, gefasster Blick. Ich habe ihr die Rettungsweste ausgezogen. Den festen, mutigen Blick, den werde ich nie vergessen.

Geschwächt und seekrank

Nachdem wir dann alle Menschen an Bord gebracht haben und wir zum Glück keine akut-medizinischen Notfälle hatten, haben wir die Registrierung gestartet. Da fragen wir die grundlegenden Fragen ab, wo die Menschen herkommen, wie alt sie ungefähr sind und machen auch ein erstes medizinisches Screening. Ob irgendwas Wichtiges ist, wo wir sofort intervenieren müssen. Die Menschen sind insgesamt geschwächt, seekrank, aber ich würde sagen, aus medizinischer Sicht, zum Glück in einer stabilen Situation.

Und dann konnten wir planmäßig auch am Nachmittag unsere Klinik für alle öffnen und haben alle gebeten, die eine chronische Erkrankung haben, die Medikamente nehmen zuerst zu uns zu kommen, damit wir das evaluieren können. Im Verlauf haben wir die Klinik für alle Menschen geöffnet, die uns sehen wollen, die irgendwelche Probleme haben, wo sie Hilfe brauchen.

„Normaler“ Klinikalltag und viel Hausärztliches

Und dann sind wir in den normalen Klinikalltag gestartet mit dem medizinischen Team. Wie erwartet gab es viel Hausärztliches, chronische Erkrankungen, die teilweise nicht so gut eingestellt waren. Hautinfektionen haben wir gesehen, ein bisschen kleine Chirurgie haben wir gemacht, Verbandswechsel, und Kinder mit den üblichen pädiatrischen Beschwerden hatten wir, teilweise Erbrechen. Viele waren seekrank.

Aber wir sehen auch vieles, was unabgeklärt ist, was sehr frustrierend ist. Beispielsweise ein Kind mit einer Hörstörung, was bisher nicht abgeklärt wurde. Das wäre in Deutschland einfach nicht vorgekommen. Da würde man direkt zum Facharzt gehen. Und im Gespräch hören wir dann viel von von Gewalt und Folter auf der Flucht und auf der Vertreibung und auch aus den Ländern, aus denen die Menschen kommen, und wir sehen auch tatsächlich die körperlichen Spuren davon und können das dann bezeugen.

MedEvac wegen V.a. Myokardinfarkt

Ein Patient hat uns dann im Verlauf doch noch ziemlich beschäftigt. Der kam mit einer typischen Konstellationen und Symptomatik von einem möglichem Herzinfarkt. Ich habe zurück an meine Notaufnahmezeit in der Inneren gedacht und was wir tun würden. Und wir haben ziemlich schnell gemerkt, dass mit dem, was wir haben, hier die Diagnostik einfach nicht abschließen können.

Dann haben wir uns im Team zusammengesetzt und haben entschieden, dass wir diesen Patienten evakuieren müssen. Der muss an Land, der muss in ein Krankenhaus, weil wir das an Bord einfach nicht gewährleisten können. Weder die Überwachung noch die vernünftige Diagnostik, die wir brauchen, ein vernünftiges Labor.

Schiffarzt Jörg Schmid mit Crew-Kollegin in seiner kleinen Klinik an Bord.

© Judith Büthe / SOS Humanity

Dann haben wir die italienischen Rettungsleitstellen kontaktiert per Telefon. Nach der Schilderung des Befunds und der Konstellation haben die das auch befürwortet, dass der Patient evakuiert wird, haben dann Kontakt aufgenommen mit der italienischen Küstenwache und geschaut, wie und wo wir am besten den Patienten an Land bringen können. Die kamen dann, als wir noch in der Nähe von Sizilien waren, schon auf dem Weg zu unserem Place of Safety, mit einem kleinen Küstenwachenschiff und haben den Patienten mit seinem Cousin zusammen an Bord genommen und nach Sizilien in ein Krankenhaus gebracht.

Es war eine riesige Aktion. Viel Aufregung, sehr aufregend auch für mich, damit mit den Behörden zu kommunizieren. Aber im Endeffekt war das so, wie einfach dieser Patient versorgt gehört, und das war mir wichtig, dass er so behandelt wird, wie er auch in Deutschland, wenn er mit diesen Symptomen in die Notaufnahme kommen würde, behandelt werden würde.

Knapp 1.000 Kilometer zum „Port of Safety“

Jetzt sind wir also unterwegs mit den verbliebenen 58 Menschen an Bord zu dem Port of Safety, der uns zugewiesen wurde von der italienischen Rettungsleitstelle. Das ist weit weg hier in der Nähe von Rom, also ungefähr 1.000 Kilometer, drei Tage zu fahren, mit vielen geschwächten Menschen an Bord. Wir sind angewiesen von den Rettungsleitstellen, ohne Umwege dorthin zu fahren, obwohl wir noch Kapazität hätten an Bord, weitere Menschen aufzunehmen. Aber wir dürfen nicht weiter suchen. Und wir wissen, dass weitere Boote mit geflüchteten Menschen unterwegs sind und hoffen einfach, dass sie auch ohne unsere Hilfe ihren Weg finden oder auch gerettet werden.

Das Schöne und Traurige nah beisammen

Was nicht untergehen darf, sind auch die vielen schönen, respektvollen Begegnungen hier auf Augenhöhe. Ein Beispiel: Wir hatten einen kleinen Barbershop, also eine kleine Friseurstation aufgebaut, die die Überlebenden selber betrieben haben. Da waren einige dabei, die eine Friseurausbildung hatten. Ich bin dann kurz vorbeigegangen in der Mittagspause und habe gesagt, ich hätte gern einen Termin. Und dann haben sie gesagt: „Yalla, du kannst dich hier hinten in der in der Schlange anstellen, wie alle anderen auch.“ Und alle haben gelacht. Und das fand ich sehr witzig.

Auch das Schöne und das Traurige liegt hier so nah beisammen. Wir sehen abends super schöne Sonnenuntergänge. Wir hatten einmal Delfine vorne am Bug, die mit uns geschwommen sind. Und gleichzeitig sehen wir in der Klinik Unterversorgung, Folterspuren. Und dass das alles so nah beieinander liegt, ist sehr besonders für diesen Einsatz und für diese Art der Arbeit. Und davon werde ich auch im Verlauf sicher noch mehr erzählen können.

Wenn alles gut läuft, können wir morgen Mittag in Civitavecchia die Menschen an Land bringen. Wir sind schon vorbereitet worden von den Behörden, dass es dann eine große Inspektion geben wird. Wie üblich, das Gesundheitsministerium wird mit Personal an Bord kommen, es wird Polizeibefragungen geben.

Aber davon berichte ich dann, wenn wir wieder zurück sind, auf dem Weg ins Einsatzgebiet. Bis dann!

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