Kriminalgeschichte
Fritz Haarmann: Fehlerhaftes Gutachten über einen Serienmörder
Vor 100 Jahren wurde Fritz Haarmann verhaftet. Ein Göttinger Psychiater bescheinigte ihm volle Zurechnungsfähigkeit, obwohl viele Merkmale einer schwerwiegenden komplexen Persönlichkeitsstörung vorlagen.
Veröffentlicht:Am 23. Juni 1924 durchsuchen Polizisten die Dachkammer des Frührentners Fritz Haarmann in Hannover. Der 44-Jährige ist am Abend zuvor am Hauptbahnhof festgenommen worden. In seinem Zimmer entdecken die Polizisten diverse Blutspuren und blutbefleckte Kleidungsstücke junger Männer. Es sind Beweismittel zu einem monströsen Kriminalfall, der ganz Deutschland erschüttert: Haarmann gibt nach tagelangem Verhör zu, zahlreiche junge Männer getötet, ihre Leichen zerstückelt und anschließend beseitigt zu haben.
Zwei Monate nach seiner Verhaftung wird er zur psychiatrischen Begutachtung in die Heil- und Pflegeanstalt in Göttingen gebracht. Der Göttinger Professor für Psychiatrie und Neurologie, Ernst Schulz, kommt in seinem Gutachten zu dem Schluss, dass Haarmann „zurechnungsfähig“ und somit voll für seine Taten verantwortlich ist. Damit ist juristisch der Weg frei für jene Strafe, die der damaligen öffentlichen Erwartung entspricht: Im Dezember 1924 verurteilt das Landgericht Hannover den Serienmörder wegen 24-fachen Mordes zum Tode.
Fragwürdige Vorgehensweise
Aus heutiger Sicht erscheint das Gutachten, auf das sich das Gericht in seinem Urteil stützt, allerdings sehr fragwürdig. Dies lässt sich deshalb mit einiger Sicherheit sagen, weil die Gespräche, die der Gutachter damals mit Haarmann führte, wörtlich mitstenografiert wurden. Anfang der 1990-er Jahre hat die damalige Oberärztin am Landeskrankenhaus Göttingen, Christine Pozsár (1959-2001), diese Dokumente ausgewertet. Ihre Ergebnisse hat die Expertin für forensische Psychiatrie in dem Buch „Die Haarmann-Protokolle“ veröffentlicht.
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Beschimpfungen statt neutraler Haltung
Ein Gutachter darf keine vorgefasste Meinung haben, sondern muss eine neutrale Haltung einnehmen. Im Fall Haarmann wurde dieser Grundsatz nicht beachtet, hat Christine Pozsár bei der Auswertung der Protokolle festgestellt. Über weite Strecken hätten die Gutachtengespräche den Charakter eines Verhörs gehabt, nicht den einer ärztlichen Exploration. Teilweise sei Schulze völlig aus der Gutachterrolle herausgefallen und habe sich als wütender Ankläger gebärdet. Einmal beschimpfte er Haarmann mit den Worten: „Ein solches Schwein wie Sie habe ich noch nicht gesehen.“
Bei der Beurteilung Haarmanns und seiner Taten seien offensichtlich die religiösen Grundüberzeugungen Schulzes maßgeblich gewesen. Der Gutachter habe nicht versucht, die Taten aus dem subjektiven Erleben Haarmanns abzuleiten, sondern diese sogleich einer moralischen oder religiösen Wertung unterzogen, konstatiert Pozsár. Dass Schulze von vornherein ein Werturteil gefällt habe, zeige sich an Äußerungen wie „Das ist doch eigentlich eine schreckliche Schweinerei.“
Außerdem habe Schulze wesentliche Aspekte unterschlagen. So habe er sich überhaupt nicht mit Haarmanns Kindheit und Jugend beschäftigt. Dabei weise dessen frühe Lebensgeschichte schwerwiegende Auffälligkeiten auf: Das Verhältnis zum Vater war schlecht und von Demütigungen geprägt, einmal soll ihn dieser auch sexuell belästigt haben. Haarmanns älterer Bruder soll ihn ab dem sechsten Lebensjahr sexuell missbraucht haben. Nach Ansicht der Expertin für forensische Psychiatrie dürften diese frühen Belastungen „die Entwicklung einer Persönlichkeitsstörung mit dissozialen Zügen sowie auch der sexuellen Deviation und Perversion“ zumindest begünstigt haben.
Sexualproblematik bleibt unberücksichtigt
Schulze setzt sich nicht mit der Sexualproblematik auseinander. „Auf das Geschlechtsleben Haarmanns gehe ich mit Absicht nicht des genaueren ein“, schreibt er am Ende seines Gutachtens. Dabei sei gerade dieser Bereich von zentraler Bedeutung, meint Pozsár: „Bei den Tötungen, die Haarmann beging, handelte es sich offenkundig um das Symptom einer Perversionsbildung, die Tötungen stellten also Durchbrüche seiner sexualisierten Destruktivität dar.“
Schulze erwähne den Begriff Perversion nicht, obwohl dieser in der Psychiatrie schon lange etabliert gewesen sei. Die Häufigkeit der Tötungsdelikte in den Wochen vor Haarmanns Verhaftung spreche zudem für eine progrediente Verlaufsform der Symptomatik mit einem „Verfall an die Sinnlichkeit“. Die penible, ritualisierte Zerstückelung der Leichen und die Ausführlichkeit, mit der Haarmann sie beschrieb, lasse den Eindruck entstehen, dass ihm die Zerstückelung selbst einen sexuellen Lustgewinn verschaffte.
Pozsár kommt nach der Auswertung der Protokolle und sonstigen Unterlagen denn auch zu einem gänzlich anderen Schluss als der damalige Gutachter: „Trotz aller Einschränkungen der Möglichkeiten einer nachträglichen forensisch-psychiatrischen Beurteilung besteht aus heutiger Sicht kein Zweifel an einer bei Haarmann vorliegenden schwerwiegenden, komplexen Pathologie, die zumindest eine erhebliche Einschränkung seiner Steuerungsfähigkeit zum Zeitpunkt der Straftaten bedingt.“ Bei berechtigten Zweifeln an der Zurechnungsfähigkeit hätte man auch nach der damaligen Rechtsprechung von der damals noch praktizierten Todesstrafe absehen müssen. Tatsächlich hat Haarmann nichts gegen die Todesstrafe einzuwenden – auch deshalb, weil er sich vor einer nochmaligen Einweisung in die Psychiatrie fürchtet. Er war 1897 in der Heil- und Pflegeanstalt Hildesheim untergebracht gewesen, was für ihn offenbar eine traumatische Erfahrung gewesen war. Er will lieber geköpft werden als noch einmal im „Irrenhaus“ zu landen. Am Morgen des 15. April 1925 wird das Urteil im Hof des Gerichtsgefängnisses in Hannover vollstreckt. Kurz bevor der Scharfrichter das Fallbeil fallen lässt, ruft Haarmann: „Auf Wiedersehen“.
Abgetrennter Kopf als Forschungsobjekt
Nach der Hinrichtung kam der abgetrennte Kopf als potenzielles Forschungsobjekt an die Universität Göttingen. Der präparierte Schädel wurde mehrere Jahrzehnte lang in einem Glasgefäß mit einer durchsichtigen Kunststofflösung in der Sammlung des Instituts für Rechtsmedizin aufbewahrt. Das Institut erhielt regelmäßig Anfragen, ob man den Haarmann-Schädel fotografieren dürfe. Die wohl makaberste Anfrage kam aus Hannover: 1991 wollte die Stadt zu ihrem 750-jährigen Bestehen auch ihres berüchtigsten Bürgers gedenken und den Kopf für eine Lasershow abfilmen lassen. Der damalige Institutsleiter Professor Klaus-Steffen Saternus wollte keine voyeuristischen Ambitionen unterstützen und lehnte ebenso wie alle sonstigen Anfragen auch dieses Ansinnen ab. Fritz Haarmann am Himmel über der Leine, in die er einst seine Leichen geworfen hatte – diese Vorstellung fand der Rechtsmediziner „etwas abwegig“. 2014 wurde Haarmanns Schädel eingeäschert und auf einem anonymen Gräberfeld beigesetzt.