Kokain: So weiß wie Schnee
Es gilt als Modedroge der Kreativen. Ob Starkoch oder Sternchen, Liedermacher oder Künstler - viele von ihnen haben Erfahrungen mit Kokain gemacht, dem "Schnee". In reiner Form isoliert hat das Alkaloid aus der Coca-Pflanze erstmals 1860 der Apotheker Albert Niemann. Am 19. Januar jährte sich sein Todestag zum 150. Mal.
Veröffentlicht:Niemann wurde 1834 in Goslar geboren. Sein Vater war Rektor des städtischen Progymnasiums. Unter dem Dach eines alten Patrizierhauses befand sich sowohl der Arbeitsplatz des Vaters, als auch die Dienstwohnung der Familie.
Mit sechs Jahren wurde Albert hier eingeschult und besuchte die mehrjährige erste und zweite Klasse, deren Abschluss zu einer "gehobeneren" Lehre berechtigte. In seiner Dissertation schreibt Niemann, dass er schon während seiner Schulzeit den Wunsch hegte "die Kunst zu erlernen, Arzneimittel herzustellen".
1849 trat er deshalb eine Lehrstelle in der Rathsapotheke in Göttingen an. Der Lehrling Niemann traf hier wahrscheinlich zum ersten Mal den berühmten Chemie-Professor Dr. Friedrich Wöhler, der als königlicher Generalinspector die Apotheken des Landes Hannover überprüfte und dessen Vorlesungen an der Göttinger Georgia-Augusta Niemann ab 1852 belegte.
Nach verkürzter Lehrzeit aufgrund ausgezeichneter Leistungen vertiefte Niemann sein Wissen in mehreren Apotheken in Hannover. 1858 immatrikulierte er sich erneut in Göttingen und legte im gleichen Jahr die Apothekerprüfung vor dem königlichen Ober-Medicinal-Collegium ab.
Gefährlich Arbeit mit Giftgas und Rauschdrogen
Angetan von den hervorragenden Zeugnissen, stellte Professor Wöhler ihn als Gehilfen in seinem neuen Laboratorium an. In Wöhlers Auftrag sollte Niemann die Wirkung des braunen Chlorschwefels (Dischwefeldichlorid) auf Ethylen untersuchen.
Die Experimente mit dem daraus synthetisierten Dichlordiethylsulfid, das im 1. Weltkrieg unter der Bezeichnung "Senfgas" / "Lost" militärisch als Giftgas eingesetzt wurde, war vermutlich auch die Ursache für seinen frühen Tod zwei Jahre später.
Doch zunächst übertrug Wöhler ihm eine weitere wichtige Aufgabe: die Erforschung der Coca-Blätter. Bereits Ende des 15. Jahrhunderts hatte ein spanischer Priester aus Südamerika über den Gebrauch eines Genussmittels berichtet, das Hungergefühle reduziere und große Kraft- und Ausdauerleistungen ermögliche.
Die Coca-Blätter kauenden Bergarbeiter in Peru steigerten so ihre Produktivität und die Gewinne der Minenbesitzer.
Im 19. Jahrhundert weckte das Wundermittel dann das Interesse vieler europäischer Forscher. Problematisch war jedoch die Beschaffung der Coca-Blätter in ausreichender Menge. Zudem beeinträchtigten lange Transportwege die Qualität des Materials.
Durch gute Beziehungen erhielt Wöhler 1859 von einer österreichischen Expedition eine "Kiste voll Koka-Blätter", insgesamt 60 Pfund. Nach nur drei Monaten gelang Albert Niemann die Isolierung des Alkaloids.
In seiner Dissertation "Über eine organische Base in den Cocablättern" beschreibt er die narkotisierende Wirkung der Substanz, "welche eine eigenthümliche Betäubung auf der Stelle der Zunge, auf welche man die Lösung brachte" erzeugte. Die Ergebnisse gelten als die Geburtsstunde der Lokalanästhesie.
1862 begann der Arzneimittelhersteller Merck in Darmstadt mit der kommerziellen Kokain-Produktion. 3,6 Gramm kosteten damals 16 Mark. Auch Sigmund Freud erhielt zu Versuchszwecken Kokain von Merck.
Anfang des 20. Jahrhunderts gab es ein breites Spektrum an medizinischen Einsatzmöglichkeiten: in der Augenheilkunde (bis heute), bei HNO-Operationen oder beim Morphin-Entzug. Soldaten des Ersten Weltkrieges erhielten Kokain als Aufputschmittel und bis 1906 war die Substanz vermutlich sogar Bestandteil der Coca-Cola-Rezeptur.
Heute überwiegt der illegale Gebrauch den medizinischen
Parallel dazu entwickelte sich aber auch der illegale Gebrauch als Droge der Bohème in den Goldenen Zwanzigern. In den USA ist Kokain heute die am häufigsten konsumierte illegale Droge. Auch die Länder der EU verzeichnen seit Jahren einen steigenden Kokainkonsum, der jährlich zu schätzungsweise 1000 Todesfällen führt.
Niemann hat diese Entwicklung selbst in ihren Anfängen nicht miterlebt. Er kehrte 1860 schwer krank in sein Elternhaus nach Goslar zurück, wo er kurze Zeit später 26-jährig an einer "Lebervereiterung" starb.
Wer Goslar, die Heimatstadt Niemanns erkunden möchte, kann heute sogar in seinem Geburtshaus logieren. Das nach den ursprünglichen Besitzern benannte Schwiecheldthaus in der Nähe des historischen Marktplatzes bietet Gästen Hotelzimmer mit 5-Sterne-Komfort und wird zudem als Seniorenresidenz genutzt.
Zu sehen sind dort auch die Räume der Niemannschen Wohnung, ausgestattet mit Wand- und Deckengemälden aus der Renaissance.