Flüchtlingskrise
Ohne Traumatherapie wird's erst richtig teuer
Die Integration traumatisierter Flüchtlinge droht zu scheitern, wenn es nicht gelingt, die Geflohenen psychisch zu stabilisieren. Diskutiert wird nun ein Stepped-CareModell, das Laien-Therapeuten aus den Fluchtländern einbezieht.
Veröffentlicht:KÖLN. Der junge Afrikaner springt während der Therapiesitzung plötzlich auf, schnappt sich ein Verteilerkabel und bindet es sich wie einen Patronengurt um die Hüfte, die Dreifachsteckdose auf unsichtbare Feinde gerichtet. Hektisch beginnt er, seine imaginären Kameraden herumzukommandieren.
Der Mann befindet sich plötzlich wieder im Krieg, die Erinnerungen haben ihn überwältigt, er weiß nicht mehr, dass er in Sicherheit ist, weit weg von Angreifern und MG-Salven.
Mit diesem auf Video festgehaltenen Flashback demonstrierte der Traumaexperte Professor Thomas Elbert beim Neurologen- und Psychiatertag in Köln eindrucksvoll die Folgen schrecklicher Erlebnisse.
Der Afrikaner in dem Video war als Kind zum Kämpfer ausgebildet worden, befehligte bereits mit 14 Jahren eine kleine Truppe in einer der vielen Krisenregionen, in denen irreguläre Truppen gegeneinander und vor allem gegen die Zivilbevölkerung kämpfen, was sowohl bei den Opfern als auch den meist noch jungen Tätern zu psychischen Traumata führt.
Derart gezeichnete Personen sind anschließend kaum noch in der Lage, ihren Alltag zu bewältigen - sie empfinden die Gegenwart oft als Illusion und weniger real als die Vergangenheit. Einige Schlüsselreize genügen, um die Vergangenheit plötzlich wieder aufleben zu lassen und die Gegenwart zu verdrängen.
Menschen in einem solchen Zustand können weder einer geregelten Arbeit nachgehen noch sich auf Neues einlassen. Der Neuropsychologe von der Universität Konstanz sieht daher psychische Traumata als einen großen Hemmschuh für die Integration der vielen Flüchtlinge in Deutschland.
Jeder dritte Flüchtling traumatisiert
Nach Untersuchungen von Elbert und seinem Team schwankt der Anteil von Flüchtlingen mit Traumafolgestörungen je nach Herkunftsland zwischen 20 und 50 Prozent. Zudem hätten 70 bis 80 Prozent der Flüchtlinge in ihren Herkunftsländern massive häusliche Gewalt erlebt.
Gelinge es nicht, die Betroffenen psychisch zu stabilisieren, werde es teuer. Berechnungen zum Finanzbedarf der Flüchtlingskrise gehen von einer raschen Integration in den Arbeitsmarkt aus. So basiert der geplante Bundeszuschuss von 93 Milliarden Euro bis 2020 auf der Annahme, dass rund die Hälfte der Flüchtlinge bis dahin eine bezahlte Arbeit hat.
Ohne Therapie, so Elbert, bleibt jedoch ein Drittel dysfunktional. "Das wird nicht berücksichtigt. Wenn diese Personen nicht funktionsfähig werden, dann reden wir über sehr viel Geld."
Eine Betreuung so vieler Traumatisierter durch ausgebildete Psychotherapeuten ist jedoch beim jetzt schon bestehenden Mangel an Therapieplätzen illusorisch.
Hier müssen robuste und niederschwellige abgestufte Modelle greifen, die mit Laien arbeiten, bevorzugt solchen aus der Heimat der Flüchtlinge, da sie mit Sprache, Umgangsformen und Gebräuchen gut vertraut sind.
Elbert und seine Kollegin Dr. Maggie Schauer schlagen daher eine Interventionsform vor, wie sie sich bei der Traumabewältigung in vielen Krisenregionen bewährt hat: die narrative Expositionstherapie (NET).
Schauer nannte bei der Tagung eine Studie aus Ruanda - hier gingen die traumatischen Beschwerden durch die Therapie drastisch zurück, wobei die Ergebnisse bei den einheimischen angelernten Laien oft noch besser waren als bei den ausländischen professionellen Therapeuten.
Die NET helfe vor allem, traumatische Erlebnisse wieder in Raum und Zeit zu verorten und sie dadurch zu bewältigen. Den Kern bildet eine Lebenslinie mit biografisch angeordneten Gegenständen: Steine stehen für ein traumatisches Ereignis, Blumen für ein freudiges, Stöcke für selbst ausgeübte Gewalt und Aggression, Kerzen für Verlust und Verlassenwerden. "Das funktioniert auch bei Kindern oder Menschen mit geringer Bildung", so Schauer.
Schließlich werden die Erlebnisse in der narrativen Exposition aufgearbeitet. Die "heißen" Furchtnetzwerk-Assoziationen sollen dabei mit den "kalten" räumlich-zeitlichen Kontexten verknüpft werden, etwa mit Fragen wie "Was ist dann passiert?", "Welche Bedeutung hatte dies?", "Wie geht es ihnen jetzt beim Erzählen?", "Was haben Sie damals erlebt?"
Das Erzählen schafft die Verbindung zum sicheren Hier und Jetzt, die Erinnerungen werden dadurch als vergangen klassifiziert.
Modellprojekt geplant
Untersuchungen in Flüchtlingslagern hätten ergeben, dass 60 Prozent der traumatisierten Personen nach der NET in der Lage waren, das Lager zu verlassen, mit reiner Psychoedukation nur 11 Prozent.
Geplant ist nun ein Modellprojekt zur Laien-unterstützten Psychotherapie für Flüchtlinge in Düsseldorf, erläuterte Elbert auf der Tagung. "Wir wollen natürlich nicht, dass die Laien, die hier als Notfallversorger auftreten, dies alleine tun."
Die Idee sei vielmehr, dass Profis die Beteiligten supervidieren und beraten, damit sie erkennen, wenn ein Fall zu kompliziert für sie wird.
Der Traumaforscher hält die Beteiligung von Laientherapeuten nicht für den optimalen, aber für den einzig gehbaren Weg. Dafür müssten aber Mittel außerhalb der bestehenden Strukturen zur Verfügung gestellt werden.
Dass sich der Weg lohnen kann, zeigte Elbert ebenfalls am Beispiel des ehemaligen Kindersoldaten: Nach der Therapie konnte er erfolgreich ein Studium abschließen.