Frühe Hilfen

Wenn Kinder Sorgen bereiten

Jung schwanger zu sein oder ein Kind allein zu erziehen, kann Eltern überfordern. Auch Theresa und Siegfried mussten Schicksalsschläge verarbeiten - Familienhebamme Beate hat ihnen dabei geholfen.

Von Ingeborg Bördlein Veröffentlicht:
VertrautesVerhältnis (v.l.): Leonie, Siegfried, Theresa und Hebamme Beate Behre.

VertrautesVerhältnis (v.l.): Leonie, Siegfried, Theresa und Hebamme Beate Behre.

© Bernd Krug

Theresa K. (22) hat ihr Töchterchen auf dem Arm. Leonie kräht fröhlich und lässt sich auch gleich von "Beate" - so nennt die junge Familie ihre vertraute Familienhebamme inzwischen - in den Arm nehmen.

Daneben der stolze Papa Siegfried. Eine glückliche Familie präsentiert sich beim Hausbesuch von Beate Behre im Heidelberger Stadtteil Pfaffengrund, knapp ein Jahr nach der Geburt von Tochter Leonie.

Vor eineinhalb Jahren war die Situation eine ganz andere. Theresa war auf Arbeitssuche, als sie schwanger wurde. Sie und ihr Freund wollten das Kind. Neben der Freude kam bei der jungen Frau bald große Angst auf. Sie hatte schwerwiegende Ereignisse zu verkraften. Ihr Vater war plötzlich gestorben.

Ihr Freund erkrankte an einem chronischen Darmleiden, als sie im fünften Monat schwanger war. Sie legte an Gewicht zu, er wurde immer dünner. Auf 45 Kilogramm abgemagert musste er schließlich für mehrere Monate stationär in die Klinik. Seinen Beruf als Koch konnte er nicht mehr ausüben. Zu den gesundheitlichen Problemen kamen Geldsorgen. "Ich merkte, dass ich in eine Depression rutschte," sagt die junge Frau rückblickend.

Besuch einmal wöchentlich

Nach einem Tipp wandte sie sich an die "Anlaufstelle Frühe Hilfen" in Heidelberg. Diese ist am Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin des Uniklinikums Heidelberg angesiedelt.

Das ist ein Netzwerk, getragen von der Stadt und dem Heidelberger Uniklinikum, um jungen Eltern oder Alleinerziehenden, die mit Familienzuwachs überfordert sind, möglichst frühzeitig Hilfe anzubieten. "Keiner fällt durchs Netz" heißt das Projekt, das vom Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie am Heidelberger Uniklinikum entwickelt wurde und wissenschaftlich evaluiert wird.

Schnell hatte die junge Frau ein Erstgespräch mit einer Psychologin. Zwei Psychologinnen koordinieren die "Frühe Hilfe-Angebote", sind Ansprechpartnerinnen für Eltern oder Alleinerziehende per Telefon oder E-Mail, arbeiten eng mit den Familienhebammen zusammen und sind Kontaktperson für alle Beteiligten des Netzwerks wie Kliniken, Ärzte, Beratungsstellen oder Jugendamt. Oberstes Ziel ist es zu helfen, wenn dem Kind noch nichts passiert ist (Primärprävention).

Dem jungen hilfesuchenden Paar wurde vorgeschlagen, sich von einer Familienhebamme unterstützen zu lassen. Einmal wöchentlich suchte Beate Behre die junge Schwangere fortan auf - der Partner lag bereits in der Klinik. "Wir haben zunächst viel geredet", sagt Behre, "über den Tod des Vaters, die Krankheit des Freundes".

Schnell wuchs ein Vertrauensverhältnis. Wichtig war der Schwangeren vor allem die Sicherheit, die ihr Beate Behre bot. "Ich konnte sie Tag und Nacht anrufen, immer wenn die Angst kam oder wenn Fragen auftauchten."

Vielseitige Arbeit, schlecht bezahlt

Haftpflicht für Hebammen

Hebammen sorgen für reges öffentliches Interesse und haben kürzlich den Bundestag beschäftigt. Grund ist, dass die Berufshaftpflicht für freiberufliche Hebammen in der Geburtshilfe immer teurer wird. Zudem will sich der letzte verbliebene Versicherer im Juli 2015 aus dem Markt zurückziehen.

Die starken Steigerungen betreffen besonders einen Teil der Berufsgruppe. Denn von rund 21.000 Hebammen arbeiten etwa 60 Prozent freiberuflich – davon erbringen geschätzt 3500 geburtshilfliche Leistungen. Dazu zählen Geburtshaus-, Hausgeburts- und Beleghebammen.

Zwar haben die Kassen die Vergütung für Geburtshilfe erhöht, davon profitieren aber vor allem Hebammen, die viele Geburten vornehmen, so der Deutsche Hebammenverband. Diskutiert wird ein Haftungsfonds für hohe Schadenssummen.

Beate Behre hat vor fünf Jahren die Zusatzqualifikation zur Familienhebamme erworben. Sie ist eine von 300 in Baden-Württemberg, ein Teil davon ist noch in der Ausbildung. Diese ist berufsbegleitend und umfasst 250 Stunden.

Familienhebammen beraten nicht nur in der gesundheitlichen Versorgung des Kindes, sondern fungieren oft auch als Sozialarbeiterinnen, Seelsorgerinnen, vermitteln Kontakte zu weiteren Hilfsangeboten für Familien, beobachten die elterliche und Mutter-Kind-Interaktion und fördern die Kompetenzen im Umgang mit dem Baby. Im Notfall sind sie auch als Krisenmanagerinnen bei problematischen Entwicklungen gefordert, die das Kindeswohl gefährden könnten.

Der Job sei anspruchsvoll und zeitaufwändig, bezahlt werde er schlecht, so Behre. Trotz Zusatzausbildung und vieler zusätzlicher Aufgaben verdienen Familienhebammen nach Auskunft von Jutta Eichenauer, Landesvorsitzende des baden-württembergischen Hebammenverbandes, nicht mehr als ihre Kolleginnen für die reguläre Tätigkeit als Hebamme, die für einen Wochenbettbesuch (20 bis 40 Minuten, so definiert ihn der GKV-SV) rund 31 Euro brutto erhalten. Das habe schon dazu geführt, dass viele aus gut laufenden Projekten wieder aussteigen, so auch in Heidelberg.

Über eine angemessene Vergütungsstruktur der Familienhebammen wird derzeit bundesweit diskutiert. Die Vorstellungen darüber sind zwischen Kommunen und den Familienhebammen höchst unterschiedlich. Bislang gibt es keinerlei klare Regelungen.

Derzeit wird versucht, unter Federführung des baden-württembergischen Sozialministeriums gemeinsam Honorarempfehlungen für die Tätigkeit der Familienhebammen auszuarbeiten. " Wir stecken noch in den Kinderschuhen", so Eichenauer.

Supervision im Team

Die Schwangerschaft der jungen Heidelbergerin verlief mit Unterstützung der Familienhebamme sorgenfreier. Erst als Tochter Leonie nach schwerer Geburt und Kaiserschnitt zur Welt kam, stellte sich erneut ein "Gefühlschaos" ein. Wieder hatte Theresa Angst, die neue Situation nicht bewältigen zu können.

In dieser Zeit kam Beate Behre täglich in die Wohnung der jungen Familie, unterstützte beim Wickeln, schaute, wie es der jungen Frau psychisch ging, räumte Unsicherheiten im Umgang mit dem Baby aus.

Auch den jungen Vater band sie von Anfang an ein. Langsam stabilisierte sich die Situation, die Besuche der Hebamme reduzierten sich, sie konnte sich langsam zurückziehen, hält aber bis heute noch telefonischen Kontakt. "Das ist gut gelaufen", sagt sie.

Oft finden Familienhebammen weit problematischere Verhältnisse vor. Darüber berichten sie alle zwei Wochen in der Teamsitzung unter der Leitung der Psychologinnen Patricia Finke und Erika Nomura, die das Heidelberger Projekt "Frühe Hilfen" koordinieren, und der Projektverantwortlichen der Heidelberger Kinderklinik Bettina Kraft. Im Wechsel finden Supervisionen im Team statt.

Dort wird von einer Mutter berichtet, die nach der Geburt ihres zweiten Kindes eine schwere postpartale Depression entwickelt und Suizidgedanken geäußert hat. Die 35-Jährige leidet unter einer Angststörung und wird engmaschig betreut. Der berufstätige Ehemann ist mit der Situation überlastet.

Die Familienhebamme organisierte für die suizidgefährdete Frau einen Termin auf der Akutstation der Psychiatrischen Uniklinik und kümmerte sich darum, dass die ältere Tochter im Kindergartenalter versorgt war.

Bis die Frau einen Platz auf der Mutter-Kind-Station in der Psychiatrie bekommen hatte, vergingen ein paar Tage. "In dieser Zeit habe ich nachts schlecht geschlafen", sagt die Familienhebamme. Was wäre, wenn sie sich etwas angetan hätte? Das wird in der Runde ausführlich besprochen.

Hilfesuchenden oft in prekären Verhältnissen

Eine Kollegin berichtet über einen anderen Fall: Eine sehr junge, alleinerziehende Mutter wollte ihr Kind eigentlich in eine Pflegefamilie geben, tat es dann aber doch nicht. Die Familienhebamme trifft die junge Frau oft auch am späten Vormittag noch im Bett an. Mit der Hygiene ist es nicht zum Besten bestellt.

Es gibt keine Tagesstruktur, auf Anrufe oder SMS reagiert die junge Frau oft nicht. Immerhin sorgt teilweise die Großmutter für das Kind. Muss man den Fall dem Jugendamt übergeben? Diese Frage wird im Team diskutiert.

Die Hilfesuchenden befinden sich oft in sehr prekären (psycho-)sozialen und materiellen Verhältnissen: Meist haben sie einen niedrigen Bildungsstand und sind sehr jung. Mehr als die Hälfte der Mütter ist unter 25. In zwei Drittel der Fälle sind die Familien schwer belastet, besonders aufgrund psychischer Erkrankungen (jede vierte Mutter zeigt Anzeichen dafür), Drogenmissbrauch und Gewalterfahrungen in der eigenen Kindheit.

Die problematischen Fälle sind aber nicht allein auf sozial Schwache beschränkt. So wird von einem jungen Studentenpaar berichtet, beide mit dem Nachwuchs und dem Lernpensum überfordert. Der Vater hat das Baby geschlagen und selbst Hilfe bei der Anlaufstelle gesucht.

"Das ist dann eher Sekundärprävention", sagt Patricia Finke. Ebenso bei einer überlasteten Doktorandin, deren Baby "Regulationsstörungen" zeigte, viel schrie und schlecht schlief. Hier stellte der Kinderarzt den Kontakt her.

Servicemappe zum Kinderschutz

In Heidelberg wird die Anlaufstelle vor allem von Geburtskliniken (15 Prozent), von niedergelassenen Ärzten, Beratungsstellen und Hebammen (je 13 Prozent) kontaktiert. In jedem fünften Fall melden sich die Betroffenen selbst. Nach Einschätzung Beate Behres wird das Angebot "Keiner fällt durchs Netz" von den niedergelassenen Ärzten noch zu wenig wahrgenommen.

Dies entspricht auch den Ergebnissen einer bundesweiten Evaluation des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH), der Dachorganisation der zehn modellhaften Frühe-Hilfe-Projekte in den einzelnen Bundesländern.

Die Zusammenarbeit mit niedergelassenen Ärzten, vor allem Gynäkologen, wird als sehr verbesserungswürdig angesehen. Vielfach, so die Erfahrungen des Heidelberger Frühe-Hilfe-Teams, trauen sich Mitarbeiter in Kliniken und Praxen nicht, bei entsprechenden Hinweisen auf eine Belastungssituation genauer nachzufragen.

Damit Ärzte, Schwestern, Hebammen und andere Fachkräfte im Gesundheitswesen frühzeitig erkennen, ob das Kindswohl gefährdet sein könnte, wurde in Heidelberg eine Servicemappe "Frühe Hilfen und Kinderschutz" entwickelt, die auch eine Präventionscheckliste enthält. Darin werden Risikofaktoren aufgezeigt und Anlaufstellen für verschiedene Problemkonstellationen aufgeführt.

Unter der Ägide der KV Baden-Württemberg wird derzeit auch ein Anhalts- und Beobachtungsbogen für Problemfälle in Kinderarztpraxen evaluiert. Über die Honorierung werden derzeit Verhandlungen mit den Kassen geführt.

Außerdem wird modellhaft ein "Erhebungsbogen Frühe Hilfen" für Gynäkologen, Kinderärzte und Hausärzte entwickelt, um mit einer kurzen Anamnese von acht bis zehn Fragen Risikofamilien frühzeitig zu erkennen und an die entsprechenden Hilfesysteme überleiten zu können.

"Unterstützung in Kita weitergehen"

Wenn Kinder Sorgen bereiten

© Privat

Der Einsatz von Familienhebammen zahlt sich aus. Doch positive Effekte können nach Jahren wieder verschwinden, wenn die Hilfe nicht fortgesetzt wird, sagt Professor Manfred Cierpka im Interview. Er ist Ärztlicher Direktor des Instituts für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie, Zentrum für Psychosoziale Medizin am Universitätsklinikum Heidelberg und Studienleiter von "Keiner fällt durchs Netz".

Ärzte Zeitung: Frühe Hilfen sollen belastete Familien mit Kindern unterstützen. Was steht dem flächendeckenden Aufbau solcher Projekte entgegen?

Prof. Manfred Cierpka: Wenn die Modellprojekte wie "Keiner fällt durchs Netz" auslaufen, geht es um die Umsetzung in die Regelversorgung. Und das ist schwierig. Denn nun gilt es, die Verträge mit den Familienhebammen auszuhandeln und das ist Aufgabe der einzelnen Landkreise und Kommunen. Der Bund stellt den Kommunen Gelder zur Verfügung. Es muss aber der politische Wille da sein, die "Netzwerke Frühe Hilfen" mit den Familienhebammen fortzuführen oder erst zu installieren.

Leider ist derzeit die Tendenz zu beobachten, dass Familienhebammen von den Jugendämtern vermehrt als Sozialarbeiterinnen in Problemfamilien eingesetzt werden, wenn Vernachlässigung oder Missbrauch schon bekannt sind. Das ist dann Sekundärprävention. Wir wollen schon früher ansetzen…

In der Primärprävention! Kommt die Hilfe dort früh genug an?

Cierpka: Dies ist schwierig. Will man hoch belastete Familien frühzeitig erreichen und Ihnen helfen, muss man schon in der Schwangerschaft damit beginnen. So setzt "Keiner fällt durchs Netz" möglichst früh an, nämlich in den Geburtskliniken. Geschulte Ärzte, Hebammen und Pflegende können Risikosituationen erkennen. Die Zusammenarbeit mit den Kliniken ist sehr unterschiedlich, das hängt oft an einzelnen Personen.

Wichtig ist auch, die niedergelassenen Ärzte, vor allem Gynäkologen stärker einzubeziehen, denn sie sehen die Schwangeren regelmäßig. Die Frauenärzte sind sehr zurückhaltend, die Probleme mit ihren Patientinnen anzusprechen oder Kontakt zu den Netzwerken "Frühe Hilfen" aufzunehmen. Anders ist es bei den Pädiatern, die sehen das Elend der Kinder in den Früherkennungsuntersuchungen und sind in den Netzwerken auch gut vertreten. Das ist dann wieder Sekundärprävention.

Ist es denn dann schon zu spät für eine wirkungsvolle Unterstützung?

Cierpka: Wir brauchen beides. Unser Credo ist es, so früh anzusetzen, dass Risiken für das Kindeswohl in hoch belasteten Familien erst gar nicht entstehen. Natürlich ist Hilfe auch eminent wichtig, wenn Risiken schon da sind, wie erhebliche Partnerschaftskonflikte, Drogenprobleme, Alleinerziehende mit Geldnöten etc.

Was wir in unseren Nachuntersuchungen bei diesen hoch belasteten Familien festgestellt haben, ist leider, dass die positiven Effekte der Betreuung über ein Jahr durch Familienhebammen nach einigen Jahren wieder völlig verschwinden.

Das heißt, die Unterstützungsangebote müssen wesentlich länger dauern und zum Beispiel in den Kindertagesstätten fortgeführt werden. Dort haben wir die tolle Möglichkeit, die Unterstützung für die Problemfamilien fortzusetzen. Vor dieser großen Aufgabe stehen wir.

Das Interview führte Ingeborg Bördlein

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