COVID-19-Stigma

Wenn Menschen Autos wegen Corona zerkratzen

Der Corona-Ausbruch in der Tönnies-Fleischfabrik hat den Menschen im Kreis Gütersloh einige unangenehme Erfahrungen beschert. Eine davon: Das Gefühl, schief angeguckt zu werden. Der Fall ist ein Lehrstück über die menschliche Psyche.

Von Jonas-Erik Schmidt Veröffentlicht:
Absurde Reaktion: Menschen zerkratzen Autos, um etwas gegen das Virus zu tun.

Absurde Reaktion: Menschen zerkratzen Autos, um etwas gegen das Virus zu tun.

© Jens Rother / Getty Images / iStock

Gütersloh. Es ist Sommerferienzeit, viele Deutsche packen ihre Autos voll und fahren in den Urlaub. Das gilt – trotz allem – auch für die Bewohner des Kreises Gütersloh, die Nordsee zum Beispiel ist ja nicht weit. Nach den Erfahrungen der vergangenen Wochen dürfte bei nicht wenigen von ihnen aber ein Gedanke mit auf Reisen gehen, der nicht so recht in ein Ferien-Idyll passt: Bin ich willkommen?

Der Grund sind Geschichten über schiefe Blicke, unangenehme Fragen und zerkratzte Autos mit dem Kennzeichen „GT“, die die Runde machen. Sie tauchten auf, nachdem der Coronavirus-Ausbruch in der ansässigen Tönnies-Fleischfabrik dem überschaubaren Kreis zu einer ungewollten Prominenz verholfen hatte. Den Eindruck, den viele seiner Bewohner dabei entwickelten: Rest-Deutschland zeigt mit dem Finger auf uns. Und geht dabei mitunter soweit, uns die Autos zu demolieren.

Flucht, Kampf, Totstellen

Im Einzelnen sind die Berichte über diese Fälle schwer nachzuzeichnen. Wurde ein Auto zerkratzt, weil es dämlich parkte? Oder tatsächlich weil es aus Gütersloh kam und da vermeintlicherweise das Coronavirus haust? Forscher sind von der zweiten Erklärung aber keineswegs überrascht. „Grundsätzlich gibt es drei Reaktionsmuster auf Gefahren. Die gibt es schon seit der Frühzeit der Menschheit, als unsere Urahnen ihren Lebensraum vom Dschungel in die Savanne verlegten“, sagt der Risikoforscher Ortwin Renn („Das Risikoparadox: Warum wir uns vor dem Falschen fürchten“). Diese seien: Flucht, Kampf und Totstellen.

Absurde Reaktionen auf die Corona-Pandemie – etwa das Zerkratzen eines Autos, das keinen einzigen Virus aufhalten wird – ordnet Renn vor allem dem Kampf-Muster zu. „Menschen, die diesem Muster folgen, sind versessen darauf, bei einer Bedrohung irgendetwas zu tun, um der Bedrohung aktiv entgegenzutreten. Das Virus selbst kann man aber nicht bekämpfen, dem kann man nicht im Boxring begegnen. Deshalb werden Stellvertreter gesucht.“ Oft seien es Menschen aus dem Ausland, bei Corona anfangs etwa Chinesen.

Menschen aus Gütersloh wird zugeschrieben, dass sie gefährlich sind, weil sie womöglich ein Virus in sich tragen und lax mit der ganzen Sache umgehen. Das ist eine unbewusste Gedankenspirale, die losgetreten wird, keine bewusste.

Dr. Simon Hahnzog, Psychologe

Darauf seien die angeblich zu laxen oder auch die als übertrieben vorsichtig betrachteten Menschen gefolgt. „Und schließlich sind es die Bewohner aus Kreisen, die besonders belastet sind“, sagt Renn. „Die haben jetzt das Nachsehen.“

Statistiken helfen hier nicht

Eigentlich könnte der Drang, unbedingt etwas tun zu wollen, sogar positiv sein: Man geht für den Nachbarn einkaufen, man engagiert sich. „Es kann aber auch ins Irrationale umschlagen“, so Renn. „Vor allem dann, wenn sich Aggressionen über einen längeren Zeitraum angestaut haben.“ So wie in Corona-Zeiten. Mit Statistiken, wonach natürlich keineswegs der halbe Kreis Gütersloh mit Corona infiziert ist, ist diesen Leuten dann nicht mehr beizukommen.

Der Psychologe Dr. Simon Hahnzog sagt, der dahinter liegende Mechanismus sei aus sozialpsychologischer Perspektive schlichtweg als Diskriminierung zu bezeichnen. „Menschen aus Gütersloh wird zugeschrieben, dass sie gefährlich sind, weil sie womöglich ein Virus in sich tragen und lax mit der ganzen Sache umgehen. Das ist eine unbewusste Gedankenspirale, die losgetreten wird, keine bewusste.“

Das Besondere in diesem Fall sei natürlich, dass jemand aus Ostwestfalen per se nicht anders aussieht als jemand aus München. „Deswegen wird plötzlich das Autokennzeichen so relevant. Die fallen auf und dienen als Projektionsfläche“, so Hahnzog, der unter anderem am Podcast „Coronaphobie – Wie wir jetzt mit unseren Ängsten umgehen können“ beteiligt ist.

Beruhigung für eine Sekunde

Wenn ein Auto zerkratzt werde, gehe es gar nicht um ein Virus. Das sei Aggressionsübertragung. „Wenn man sich daran abreagiert hat, wirkt das in der ersten Sekunde auch ein bisschen beruhigend. Derjenige fühlt sich dann selbst wieder eigenverantwortlich handelnd. Es sagt sich: Ich habe wenigstens etwas getan“, meint Hahnzog. Auf Dauer löst das aber natürlich gar nichts.

Ein schwacher Trost für die Gütersloher: Es kann bald schon andere treffen, in deren Gegend die Pandemie plötzlich wieder aufflammt. „Das ist zu erwarten. Zumindest, wenn es so abgrenzbar ist“, sagt Hahnzog. „Das ist komplett austauschbar, solange nicht eine überwiegende Mehrheit der Bevölkerung mal so eine Erfahrung gemacht hat.“ (dpa)

Schlagworte:
Ihr Newsletter zum Thema
Mehr zum Thema
Das könnte Sie auch interessieren
Glasglobus und Stethoskop, eingebettet in grünes Laub, als Symbol für Umweltgesundheit und ökologisch-medizinisches Bewusstsein

Klimawandel und Gesundheitswesen

Klimaschutz und Gesundheit: Herausforderungen und Lösungen

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Ein MRT verbraucht viel Energie, auch die Datenspeicherung ist energieintensiv.

© Marijan Murat / dpa / picture alliance

Klimawandel und Gesundheitswesen

Forderungen nach Verhaltensänderungen und Verhältnisprävention

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Ein Dialogforum von Fachleuten aus Gesellschaft, Gesundheitspolitik und Wissenschaft

© Frankfurter Forum für gesellschafts- und gesundheitspolitische Grundsatzfragen e. V.

Das Frankfurter Forum stellt sich vor

Ein Dialogforum von Fachleuten aus Gesellschaft, Gesundheitspolitik und Wissenschaft

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Umgang mit Multimorbidität in der Langzeitpflege

© Viacheslav Yakobchuk / AdobeStock (Symbolbild mit Fotomodellen)

Springer Pflege

Umgang mit Multimorbidität in der Langzeitpflege

Anzeige | Pfizer Pharma GmbH
COVID-19 in der Langzeitpflege

© Kzenon / stock.adobe.com

Springer Pflege

COVID-19 in der Langzeitpflege

Anzeige | Pfizer Pharma GmbH
Kommentare
Dr. Antigone Fritz und Hubertus Müller sitzen trocken am PC. Dort zu sehen: ein Bild vom Hochwasser in Erftstadt vor drei Jahren.

© MLP

Gut abgesichert bei Naturkatastrophen

Hochwasser in der Praxis? Ein Fall für die Versicherung!

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: MLP
Abb. 1: Zeitaufwand pro Verabreichung von Natalizumab s.c. bzw. i.v.

© Springer Medizin Verlag GmbH, modifiziert nach [9]

Familienplanung und Impfen bei Multipler Sklerose

Sondersituationen in der MS-Therapie

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: Biogen GmbH, München
Protest vor dem Bundestag: Die Aktionsgruppe „NichtGenesen“ positionierte im Juli auf dem Gelände vor dem Reichstagsgebäude Rollstühle und machte darauf aufmerksam, dass es in Deutschland über drei Millionen Menschen gebe, dievon einem Post-COVID-Syndrom oder Post-Vac betroffen sind.

© picture alliance / Panama Pictures | Christoph Hardt

Symposium in Berlin

Post-COVID: Das Rätsel für Ärzte und Forscher

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: vfa und Paul-Martini-Stiftung
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Nach Bundesrats-Votum

Unterschiedliche Reaktionen auf beschlossene Klinikreform

Kommentar zur Entscheidung des Bundesrats

Klinikreform – ein Fall fürs Lehrbuch

Lesetipps