Gesellschaftlicher Diskussionsbedarf
Augurzky und Karagiannidis fordern radikale Reformen im Gesundheitssystem
Die Gesundheitskosten steigen immer weiter, auch der Zusatzbeitrag zur Krankenversicherung. Gesundheitsökonom Boris Augurzky und Intensivmediziner Christian Karagiannidis empfehlen, rasch gegenzusteuern.
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Die Ausgabensteigerungen im Gesundheitswesen, bei gleichzeitig klammen Kassen, bereiten zur Zeit Sorgen.
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Berlin. Gesundheitsökonom Boris Augurzky und Intensivmediziner Christian Karagiannidis empfehlen radikale Reformen, um weitere Kostensteigerungen im Gesundheitssystem zu verhindern. Die „Welt“ berichtet vorab über ihr neues Buch „Die Gesundheit der Zukunft: Wie wir das System wieder fit machen“. Augurzky ist gesundheitspolitischer Sprecher des RWI Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung, Karagiannidis ist Professor am Lehrstuhl für Pneumologie an der Uni Witten/Herdecke. Beide gehören der Regierungskommission zur Krankenhausversorgung an.
Aktuell liegen die Abgaben für Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung bei 42 Prozent des Bruttolohns, die Hälfte trägt der Arbeitnehmer. Ohne radikales Umsteuern würden diese Sozialabgaben bis 2035 auf mehr als 50 Prozent steigen, warnen die Autoren.
Stärkere Selbstbeteiligung
Daher schlagen sie unter anderem drei große Reformschritte vor: Erstens empfehlen sie eine sozial gestaffelte stärkere Selbstbeteiligung, auch um die überdurchschnittlich häufigen und aus ihrer Sicht nicht immer notwendigen Arztbesuche - im Schnitt 9,4 pro Jahr - und Klinikaufenthalte - 213 je 1.000 Einwohner pro Jahr - zu verringern.
Konkret sollen Versicherte pro Jahr die Ausgaben für Gesundheitsdienstleistungen bis zur Höhe von maximal einem Prozent ihres beitragspflichtigen Einkommens selbst zahlen. Bei 25.000 Euro Einkommen etwa läge die Grenze bei 250 Euro Zuzahlung. Maximal soll sie 661,50 Euro betragen für alle mit einem Einkommen ab der Beitragsbemessungsgrenze von derzeit 66.150 Euro.
Wer kriegt noch eine teure Behandlung?
Zweitens sollten alle Behandlungen auf ihr Kosten-Nutzen-Verhältnis überprüft werden, wie es in anderen Ländern bereits Standard sei. Dabei würden die Verlängerung der Lebenszeit durch eine Therapie und die Lebensqualität in dieser Lebenszeit ins Verhältnis zu den Kosten gesetzt.
Auf den ersten Blick könne diese Herangehensweise „moralisch fragwürdig erscheinen“, zitiert die Zeitung aus dem Buch. Wenn man aber bedenke, dass die Ressourcen für eine Leistung mit geringem Nutzen woanders fehlen, wo sie größeren Nutzen stiften könnten, werde klar, dass dieses Vorgehen „moralisch sogar geboten ist“.
Als Beispiel vergleichen die Autoren einen jungen Krebs-Patienten mit großen Chancen auf eine normale Lebenserwartung nach einer teuren Therapie mit hoher Heilungschance und einen dementen Patienten mit verkalkter Aortenklappe: „Selbst wenn diese für 30.000 Euro ersetzt wird, wie sehr ändert sich seine Lebensqualität danach? Eine ethisch außerordentlich schwierige Frage, die wir aber gesellschaftlich klären müssen.“
Mengenbegrenzungen bei Arzneimitteln
Als dritten Punkt nennen sie Einsparungen bei den vergleichsweise sehr hohen Arzneimittelkosten in Deutschland. Für bestimmte Eingriffe und Therapien solle man eine Mengenbegrenzung einführen, heißt es in dem Buch. Während andere Länder bereits zu unpopulären Maßnahmen griffen, würde in Deutschland „noch nicht einmal darüber diskutiert oder allenfalls mit der Ethikkeule“ geschwungen.
Die Autoren fordern Union und SPD auf, in ihren Koalitionsverhandlungen entsprechende Reformvorschläge auf die Tagesordnung zu setzen: „Wir müssen der Bevölkerung ehrlich sagen, dass das jetzige System so nicht mehr funktioniert.“ Jeder müsse seinen Beitrag leisten, dann würden am Ende alle Versicherten davon profitieren - mit stabilen Kassenbeiträgen und einer besseren Behandlung. (KNA)