Interview mit Ellen Lundershausen

BÄK-Vize: „Eine Pflicht zur Maske will gut überlegt sein“

Das neue Schuljahr hat kaum richtig begonnen, da gibt es in einigen Schulen bereits eine Maskenpflicht im Unterricht. Im Interview spricht BÄK-Vizepräsidentin Dr. Ellen Lundershausen darüber, warum sie eine generelle Maskenpflicht ablehnt. Und sie spricht über unser Verhältnis zu Krankheit.

Wolfgang van den BerghVon Wolfgang van den Bergh und Denis NößlerDenis Nößler Veröffentlicht:
Mit der Maske im Unterricht: Kein seltenes Bild im Moment.

Mit der Maske im Unterricht: Kein seltenes Bild im Moment.

© Oksana Kuzmina / stock.adobe.com

Ärzte Zeitung: In etlichen Bundesländern sind die Ferien schon vorüber und die ersten Schulen haben schon eine Maskenpflicht angeordnet, in manchen müssen die Masken sogar während des Unterrichts getragen werden. Und das bei 30 Grad Außentemperaturen. Finden Sie eine so weitgehende Maskenpflicht sinnvoll?

Dr. Ellen Lundershausen: Aus dem Alltag in der Praxis weiß ich natürlich, wie anstrengend es ist, dauerhaft eine Maske zu tragen, aber dennoch glaube ich, sie werden uns helfen, mit dieser Pandemie zurechtzukommen. Für Schulen aber halte ich eine generelle Maskenpflicht nicht für sinnvoll, zumindest solange es keinen Verdacht auf einen Infektionsfall gibt und man die Abstandsregeln einhalten kann.

Auch in der Ärzteschaft gibt es Befürworter der generellen Maskenpflicht.

Das geht mir zu weit. Eine Maskenpflicht will gut überlegt sein. Ich bin sehr dafür, dass wir die Dinge vor Ort mit gesundem Menschenverstand umsetzen und uns an den jeweiligen Bedingungen orientieren. Jede Schule hat eine eigene Architektur. In einer lässt sich das Abstandhalten einfach umsetzen, in einer anderen wiederum nicht. Wie hoch ist die Ansteckungsgefahr?

Danach muss vor Ort entschieden werden. In einer Hals-Nasen-Ohren-Praxis, wie bei uns, wo der Abstand zwischen mir und dem Kopf eines Patienten 35 Zentimeter beträgt, ist eine Maskenpflicht sinnvoll. Beim Fahrradfahren oder Spazieren aber brauche ich natürlich keine Maske. Das meine ich mit Pragmatismus, man muss immer situationsbedingt entscheiden.

„Wir müssen die Amtsärzte integrieren“. BÄK-Vize Dr. Ellen Lundershausen

„Wir müssen die Amtsärzte integrieren“. BÄK-Vize Dr. Ellen Lundershausen

© nös

In manchen Konzepten für Schulöffnungen ist eine Maskenpflicht dezidiert für Lehrer und Erzieher vorgesehen. Ist das die neue Verantwortung, die Pädagogen tragen müssen?

Warum sollten wir zwischen Lehrern und Schülern unterscheiden? Es gibt ja auch die Überlegungen, alle Lehrer zu testen. Dann frage ich: Warum nicht auch die Schüler? Was unterscheidet den 17-jährigen Schüler von der 24-jährigen Lehrerin? Wissen wir, welcher von beiden in der Woche vor dem Schulbeginn vielleicht mit 15 Leuten zum Zelten war und ein erhöhtes Risiko für eine Infektion hatte? Entweder hopp oder top. Und da denke ich, wäre es sinnvoller, wenn wir vor allem auf Abstand und Hygiene achten.

Wir hatten und haben bereits wieder erste Schulschließungen in NRW und anderen Bundesländern nach lokalen Infektionsfällen. Sind die aus Ihrer Sicht das Mittel der Wahl?

Am Ende ist es das Mittel der Wahl, diejenigen für kurze Zeit in Quarantäne zu schicken, die nachvollziehbar Kontakte zueinander hatten. Wenn wir in Schulen feste Gruppen schaffen, die zusammen und unter sich bleiben, dann kann man auch eine ganze Gruppe in Quarantäne schicken. Das empfehlen ja auch die Kinder- und Jugendärzte in ihrem Konzept der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin, das ich übrigens für das Beste halte, das ich bislang gelesen habe.

Die Virologen reden von fixen „epidemiologischen Einheiten“, bestenfalls sogar mit den Lehrer. Das wird doch ob des Lehrermangels an der Realität scheitern, oder?

Dem Vorschlag würde ich mich einhundertprozentig anschließen. Aber noch einmal, wir haben ein föderales System. Wir werden die Dinge niemals überall gleich umsetzen können. Die Schule in einer Kleinstadt ist eben anders als eine Schule in der Großstadt. Es macht doch einen Unterschied, ob wir Klassen mit 15 oder mit fast 30 Schülern haben. Wir können Empfehlungen geben, aber niemandem ist mit strikten Vorgaben geholfen, die am Ende vor Ort nicht umsetzbar sind.

Dr. med. Ellen Lundershausen

  • Aktuelle Position: Seit 2019 Vizepräsidentin der Bundesärztekammer; seit 2015 Präsidentin der Landesärztekammer Thüringen; tätig als niedergelassene HNO-Ärztin in Erfurt.
  • Ausbildung: Medizinstudium in Leipzig und Erfurt; 1974 Approbation; 1979 Facharztprüfung und Promotion.
  • Karriere: 1993-2004 Mitglied der Vertreterversammlung der KV Thüringen; 2004-2007 2. Vorstandsvorsitzende der KVT; 2007-2019 Vizepräsidentin der Landesärztekammer Thüringen; 2008 Vizepräsidentin des Deutschen Berufsverbandes der HNO-Ärzte Thüringen; 2011 Wahl in den Vorstand der Bundesärztekammer.

Finden all die Kita- und Schul-Konzepte nicht ohnehin ihre Grenzen an den Schul- und Kindergartentüren?

Natürlich! Das kommt in der Diskussion viel zu kurz. Selbst in den Schulen sind feste Gruppen kaum durchzuhalten, denken Sie nur an das Kurssystem im Gymnasium. Aber selbst wenn in einem Jahrgang Gruppen gebildet werden: Was passiert denn am Nachmittag? Dann gehen die Schüler raus und treffen sich drei Querstraßen weiter in einem netten Café. Und schon haben Sie die feste Gruppe wieder aufgehoben. Da hilft am Ende nur, dass wir den Schülern sagen: Ihr könnt eure sozialen Kontakte weiter pflegen, aber haltet bitte Abstand!

Sind die Konzepte dann nur zahnlose Tiger? In Thüringen, wo die Schule Ende August wieder startet, gibt es einen Stufenplan – grün, gelb und rot. Dennoch haben Schulleiter eigene Pläne eingeführt. Es ist wie ein Zwiebelsystem: Wir haben den großen Rahmen, darunter die Länder mit den Konzepten und darunter die Kreise und Einrichtungen etc.

Ich finde Ihr Bild von der Zwiebel sehr schön, weil das dem entspricht, was ich meine. Ich finde es gut, wenn es erst einmal vom Gesundheits- und Kultusministerium einen gemeinsamen Rahmen gibt. Der muss aber vor Ort sinnvoll umgesetzt werden. Da braucht es schon Flexibilität für die Schuldirektoren. Wir erwarten ja auch an anderer Stelle von den Schulleitern Flexibilität. Denken Sie nur an die Inklusion: Da verlangen wir auch, dass die Lehrer auf die einzelnen Bedürfnisse der Schüler eingehen.

Kamen die neuen Regeln denn überhaupt zum richtigen Zeitpunkt, oder hätten sie nicht viel früher abgestimmt werden müssen?

Wissen Sie, es ist doch bei der gesamten Corona-Problematik so, dass man 14 Tage später irgendeine neue Erkenntnis hat, die man vorher noch nicht hatte. Man kann immer sagen: Das war zu spät, das war zu früh, das war zu dogmatisch. Aber was soll das bringen? Wir werden dieses Virus so schnell nicht wieder los, wir werden vorerst damit leben müssen. Das müssen wir akzeptieren. Wir leben mit vielen anderen Erkrankungen, und mit dieser Erkrankung werden wir auch leben müssen. Und dann werden wir unser Leben darauf einstellen müssen, ohne Panik, aber mit Vernunft.

Der Bundesärztekammer sind ja „strukturierte Tagesabläufe wichtig“. Wörtlich hieß es jüngst in einer Mitteilung: „Die Bundesländer müssen jetzt den Mut haben, unter Einhaltung notwendiger Hygienekonzepte ein möglichst breites Spektrum von Präsenzunterricht in Schulen zu schaffen.“ Nehmen Sie eine Neueinschätzung des Infektrisikos vor?

Nein, aber wir müssen auch sagen, dass unsere Kinder und Enkelkinder ein Recht auf Bildung haben. Vergessen Sie auch nicht die soziale Dimension: Als im März die Schulen und Kitas geschlossen wurden, war das für manche Kinder und Jugendliche anfangs vielleicht noch ganz nett. Aber nach einer Weile werden die Nebenwirkungen deutlich.

Wenn in einer Familie jedes Kind einen Computer, ein Tablet und ein Handy hat, dann mag Homeschooling ja gehen. Was aber, wenn Sie wenig Geld haben, alleinerziehend sind mit zwei Kindern in einer kleinen Wohnung? Ich glaube schon, dass gerade Kinder aus sozial schwachen Familien es in dieser Zeit nicht leicht gehabt haben.

Fehlende Bildung korreliert bekanntlich stark mit Armut, und Armut hängt ebenso stark mit Morbidität zusammen. Wäre ein Lockdown gerade im Bildungssystem auf lange Sicht nicht ebenso gesundheitsschädlich wie ein Corona-Cluster auf kurze Sicht?

Den Cluster kann ich beherrschen. Aber einen generellen Lockdown für das ganze Land oder ganz Europa halte ich für hochproblematisch, gerade im Hinblick auf Bildung und Armut. Die Menschen haben ja sogar Panik gehabt, ins Krankenhaus zu gehen. Das ist es, was wir als ganze Gesellschaft vermeiden müssen.

Bei vielen der Maßnahmen und Pläne schwingt oft die Vorstellung durch, die Elimination von SARS-CoV-2 sei das entscheidende übergeordnete Ziel, wir müssten zu einem Status quo ante zurück. Ist dieser Blick, den wir in den vergangenen Monaten hatten, nicht etwas zu eingeengt?

Das hat nichts mit den vergangenen Monaten zu tun. Das hat etwas damit zu tun, wie sich unsere Gesellschaft mit Krankheit auseinandersetzt. Unsere Gesellschaft hat sich jahrzehntelang nur in persönlicher Betroffenheit gelegentlich mit Krankheit befasst. Wir sind immer davon ausgegangen, dass alles machbar, alles heilbar ist.

Ich glaube, dass es jetzt unsere Aufgabe aber auch Chance wäre, einen gesundheitspolitischen Diskurs zu beginnen, übrigens auch in den Schulen. Wir brauchen eine Auseinandersetzung damit, dass Krankheiten offensichtlich zu unserem Leben dazugehören und dass es auch mal eine Krankheit sein kann, die zumindest zum heutigen Zeitpunkt nicht heilbar ist.

Wir wäre es denn mit einer verpflichtenden Stunde Gesundheitsbildung pro Woche in den Schulen?

Unbedingt! Aber bitte nicht als Ersatz für den Sportunterricht, das darf nicht sein.

Kommen wir noch einmal zurück zu der neuen Unübersichtlichkeit. Die gibt es ja nicht nur bei den Hygienekonzepten für die Schulen und Kitas, sondern auch beim Testen. Neben den vielen Testanlässen von Bundesseite gibt es zusätzlich immer neue regionale Testangebote. Für Vertragsärzte ist es ziemlich unübersichtlich geworden ...

Das geht gar nicht! Zig verschiedene Vordrucke, Ziffern und Regeln, das kann man den Ärzten nicht zumuten. Eine Ziffer für den Corona-Abstrich und fertig, das hätte es gebraucht.

Wie wäre es, das Testangebot gänzlich zu öffnen: Keine Vorgaben mehr, wer darf, sondern jeder, der mag, bekommt den Test, bezahlt aus Steuermitteln. Wäre das klug?

Ich bin hundertprozentig bei Ihnen. Es wäre dann nur eine Frage, ob das der Steuerzahler will ...

... Sie sind ja auch Steuerzahlerin ...

Ich wäre auch dafür. Und wenn man es öffnet, dann könnte man das Testangebot auch auf sehr viel mehr Schultern verteilen und andere Fachgruppen mit einbeziehen, damit es eben nicht nur am Öffentlichen Gesundheitsdienst und den Hausärzten hängen bleibt.

Für Reisende aus Risikogebieten gibt es ja seit fast zwei Wochen die Testpflicht. Das Ergebnis, ob positiv oder negativ, ob richtig oder falsch, ist ja nur eine Momentaufnahme. Fehlt in dem jetzigen Konzept nicht ein zwingender zweiter Test, sagen wir nach fünf Tagen?

Es wäre sicherlich sinnvoll, nach fünf Tagen Quarantäne noch ein zweites Mal zu testen. Aber da komme ich zum Ausgangspunkt zurück: Wir können uns nicht von Corona freimachen. Wer soll all das Testen auf Dauer bezahlen? Und wollen wir unsere medizinischen Ressourcen nur noch fürs Testen auf Corona einsetzen?

Es gibt auch den Vorschlag, dass Reiserückkehrer grundsätzlich fünf Tage in Quarantäne müssten. Was halten Sie davon?

Ich halte es grundsätzlich für dringend erforderlich, dass jeder Einzelne Verantwortung für die Gesellschaft als Ganzes übernimmt. Und dazu zählt ganz konkret, sich und andere zum Beispiel durch Selbstquarantäne zu schützen, wenn man sich bewusst oder unbewusst einer Ansteckungsgefahr ausgesetzt hat.

Das muss sich nicht nur auf Urlaubsreisen beschränken. Das gilt zum Beispiel auch für Partys, die aus dem Ruder gelaufen sind und bei denen Abstandsregeln verletzt wurden. Ebenso wie ich erwarten kann, dass ich im Krankheitsfall gut und umfassend medizinisch versorgt werde, muss die Gesellschaft von mir verantwortliches Handeln zum Schutz anderer erwarten dürfen – anders geht es nicht.

Wenn wir über den Schutz der Gesellschaft reden, dann müssen wir auch über den ÖGD reden. Der Befund über die dritte Säule des Gesundheitssystems ist seit Jahren bekannt: Unterfinanzierung, Personalknappheit. Nun soll es ein „Pakt für den ÖGD“ richten. Reicht das?

Der ÖGD muss endlich ausreichend finanziert werden. Das fordern wir seit vielen Jahren. Allein in Thüringen haben wir in den letzten Jahren fünf Resolutionen verabschiedet, in denen wir um die Stärkung des ÖGD ersucht haben. Solange die Ärzte nicht tarifgerecht bezahlt werden, werden wir die Nachwuchsprobleme nicht lösen.

Sie sprechen den Tarifvertrag an. Die Amtsärzte fordern eine Angleichung an den TV-Ärzte ihrer Krankenhauskollegen. Die Kommunen lehnen Verhandlungen im Moment zwar ab. Aber selbst wenn es kräftige Gehaltssteigerungen gäbe, wäre doch kurzfristig das Problem nicht gelöst.

Kurzfristig vielleicht nicht, aber für die Zukunft schon. Mit einer besseren Vergütung glaube ich schon, dass sich die einen oder anderen jungen Ärzte eher für die Weiterbildung zum Facharzt für Öffentliches Gesundheitswesen entscheiden. Oder Ärzte, die mitten in ihrer Weiterbildung feststellen, der ÖGD könnte auch ganz interessant sein.

Da kann ich mir durchaus Quereinstiegsmodelle vorstellen. Schauen Sie doch nur auf die hausärztliche Versorgung insbesondere im ländlichen Bereich. Da ist durch die vielen Initiativen der vergangenen Jahre mittlerweile schon viel erreicht worden.

Mit dem Geld und dem Quereinstieg ist es alleine aber nicht getan, oder?

Da haben Sie Recht. Wir müssen einmal die Aufgaben der Amtsärzte klar definieren und überlegen, was sie eigentlich tun sollen. Wir können sie ja nicht mit immer mehr Tätigkeiten überschütten. Wir müssten überlegen, welche Aufgaben auch von niedergelassenen Ärzten übernommen werden können. Ich denke da zum Beispiel an Impfungen, die können wir doch in jeder Arztpraxis machen.

Wenn man sich an die Deutschen Ärztetage der vergangenen Jahre zurückerinnert, fällt einem kein Ärztetag ein, durch den ein richtiger „Ruck“ für die Amtsärzte gegangen wäre. Und gleichzeitig sind die Kollegen aus den Ämtern bei ihren niedergelassenen Kollegen oft nicht wohlgelitten. Hat die Ärzteschaft das Thema nicht selbst auch ein Stück weit vernachlässigt?

Wir setzen uns seit langem für die Belange des ÖGD ein, nicht erst seit Corona. Beim 117. Deutschen Ärztetag in Düsseldorf haben wir uns schwerpunktmäßig mit dem ÖGD beschäftigt. Aber es stimmt schon, die Amtsärzte haben sehr lange keine Lobby gehabt wie andere und sind mancherorts nicht so recht integriert worden. Da müssen wir unbedingt dran arbeiten. Die Niedergelassenen haben ihre Stammtische, da werden auch mal Klinikkollegen eingeladen. Aber vom ÖGD? Ich würde mir wünschen, dass das in Zukunft anders wird.

Vielen Dank für das Gespräch!

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