Beschneidung: Werden wir zur "Komiker-Nation"?

Die Diskussion um das Urteil zur Beschneidung zieht immer weitere Kreise: Während sich die Kinderärzte gegen religöse Beschneidungen aussprechen, ist die Politik dafür. Jetzt wird die Vorhaut sogar zur Kanzler-Sache.

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Grün: Beschnitten scheint er trotzdem nicht.

Grün: Beschnitten scheint er trotzdem nicht.

© Julian Stratenschulte / dpa

KÖLN/BERLIN (ras/HL). Bei der aktuellen Diskussion über die rituelle Beschneidung minderjähriger Jungen müssen das Kindeswohl und das Recht der Kinder auf körperliche Unversehrtheit an oberster Stelle stehen.

Diese Forderung erhebt der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ ) und schaltet sich damit in die politische Kontroverse um die rituelle Beschneidung bei Minderjährigen ein.

Derzeit, so der BVKJ, nehme die Debatte über die rituelle Beschneidung "fundamentalistische Züge" an.

Die Befürworter der Beschneidung bagatellisierten diese Form der Körperverletzung, bei der es im Extremfall zu lebenslangen körperlichen und vor allem seelischen Verletzungen kommen könne, argumentiert der Vorsitzende des Berufsverbandes der Kinderärzte, Dr. Wolfram Hartmann.

Er hält auch deshalb eine Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz für notwendig.

Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gewichtet Hartmann dabei höher als das Verbot einer Diskriminierung von Herkunft, Rasse oder Religion.

Warnung vor internationalen Folgen

Politisch scheint sich der Casus aber in eine andere Richtung zu entwickeln. Noch an diesem Donnerstag - dann kommen die Angeordneten des Bundestages aus ihrem Urlaub nach Berlin, um über die Spanienhilfe zu entscheiden - sollen sie auch über einen Entschließungsantrag zur Beschneidung befinden.

Einen solchen Antrag hatten die Fraktionen von CDU/CSU, FDP, SPD und Grünen teils kontrovers beraten.

Nach Vorstellungen der Fraktionschefs der Union und der SPD, Volker Kauder und Frank Walter Steinmeier soll die Bundesregierung aufgefordert werden, einen Gesetzentwurf in den Bundestag einzubringen, der die Beschneidung von Jungen für straffrei erklärt, wenn dies aus religiösen Gründen erfolgt und medizinisch fachgerecht durchgeführt wird.

Die Grünen möchten die Beschneidung nicht auf religiöse Gründe beschränken.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte bereits Anfang der Woche vor möglichen internationalen Folgen des umstrittenen Kölner Urteils gewarnt.

Deutschland dürfe nicht das einzige Land der Welt sein, in dem Juden ihre Riten nicht ausüben könnten. "Wir machen uns ja sonst zur Komiker-Nation", wird sie von der FAZ zitiert.

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Kommentare
Dr. Bernhard Rudy 30.07.201215:12 Uhr

Danke für die Kommentare

Ich möchte mich gerne diesen sehr fundierten Kommentaren anschließen und freue mich, dass so langsam auch bei unseren "Schnellschusspolitikern" sich zumindest diese und ähnliche Stimmen wahrgenommen werden. Vielleicht kommen ja auch noch unsere christlichen Kirchenvertreter dahinter, die dabei sind und waren, ihren eigenen Glauben aus falschverstandenem Traditionsbewußtsein anderer Religionsgemeinschaften aufzugeben.
Vielleicht könnten wir ja auch als Nation einmal mehr eine positive Vorreiterrolle übernehmen, schließlich ist unsere Nation dafür bekannt und durchaus international geschätzt, unabhängig davon ob man sich damit immer Freunde macht. (siehe auch Atomausstieg und Umweltschutz - "made in Germany")

Eberhard Kunz 19.07.201218:30 Uhr

Polemik hilft nicht weiter

Als Jurist und Medizinrechtler kann ich die deutsche Politik nicht verstehen, wenn sie geradezu hysterisch auf das rechtssystematisch völlig richtige Kölner Urteil reagiert. Hier ist, da kann ich mich den Vorrednern nur anschließen, einfach mehr Nüchternheit und Sorgfalt gefragt.

Warum soll etwas richtig sein, nur weil es in einzelnen Religionsgemeinschaften möglicherweise seit Jahrtausenden so gepflegt wird. Die Unterdrückung der Frau wurde auch in vielen Völkergemeinschaften und Religionen seit Jahrtausenden geübt und wird es teilweise auch heute noch. Trotzdem sehen sie zumindest die deutsche Rechtsordnung und mit ihr viele anderen Rechtsordnungen als nicht richtig an.

Den Rechtsgrundsatz "das haben wir schon immer so gemacht" gibt es im deutschen Recht nicht. Und daran haben sich alle Religionsgemeinschaften zu halten, der gibt es keine Ausnahme.

So weit in einem Kommentar auf den Gleichheitsgrundsatz und die Beschneidung von Mädchen hingewiesen wird: das ist nun wirklich etwas völlig anderes und mit der Beschneidung von Jungen überhaupt nicht zu vergleichen. Bei Jungs ist die Beschneidung Körperverletzung, bei Mädchen wird sie als Schwere Körperverletzung (Verstümmelung) betrachtet.

Die Beschneidung von Jungen geht ja nicht per se einher mit bleibenden Schäden. Trotzdem ist sie ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, der ohne medizinischen Grund nur in ganz besonderen Ausnahmefällen zulässig ist. Und diesem Haftungsrisiko sollte sich der Arzt bewusst sein, der religiöse Beschneidungen vornimmt.

Lutz Barth 19.07.201206:12 Uhr

"Schnellschüsse" sind zu vermeiden!

Mit Verlaub: Angesichts widerstreitender (Grundrechts-)Positionen ist eine sachlich fundierte Debatte einzufordern und es bereitet mir persönlich größtes Unbehagen, mit welcher Leichtigkeit einige „Glaubenskrieger“ über die wohl verstandenen Rechte auch unserer Kinder hierzulande hinwegfegen.

Ob die Welt uns als „Komiker-Nation“ einstufen wird, ist – abermals Verlaub – in Anbetracht hochrangiger physischer und psychischer Integritätsinteressen der Kinder von völlig untergeordneter Bedeutung. Dies werden wir aushalten müssen und zwar gerade im Interesse eines gebotenen Rechtsschutzes auch unserer Kinder.

Der Gesetzgeber sollte eine entsprechende Sorgfalt an Tag legen und im Zweifel sich sachverständig beraten lassen und ggf. entsprechende Expertisen einholen. Die Religionsfreiheit ist ohne Zweifel ein hohes Gut, dass allerdings nicht „schrankenlos“ gewährleistet ist.

Bedauerlich ist, dass hier die BÄK eher zurückhaltend ist, anstatt darauf zu drängen, dass insbesondere auch aus arztethischer Perspektive die religiös motivierte Beschneidung einer Bewertung unterzogen wird. Das Hippokratische Gedankengut und die Gebote der ärztlichen Sittlichkeit gelten selbstverständlich auch für die kleinsten Patienten und da reicht es wohl nicht zu, eine notwendige „Kultursensibilität“ dezent anzumahnen.

Ansonsten sind die Berufsethiker auch nicht um starke Worte verlegen, wie uns etliche bioethische Grundsatzdebatten lehren. Die Ärzteschaft hat sich – wie im Übrigen auch die gesellschaftlich relevanten Institutionen – nicht (!) in den Dienst der Religionsgemeinschaften zu stellen und muss sich daher positionieren. Bleibt zu hoffen, dass hier nicht weitere ethische Zwangsdiktate verabschiedet werden, die den Ärzten hierzulande kein Alternativverhalten erlauben.

Es mag ungebührlich erscheinen: Aber derzeit halte ich die vorrangig in Medien ausgetragene Debatte eher für unterbelichtet und zwar dergestalt, als dass grundlegende Fragen im Kern durch „Glaubensbotschaften“ überlagert werden und die wesentlichen Grundrechtsfragen (mal wieder) nicht diskutiert werden.

Wir sind nicht eine „Komiker-Nation“, sondern vielmehr eine Nation, die in ethisch und rechtlich brisanten Fragen allzu gerne mal in die „transzendente Glaskugel“ schaut, um Lösungen produzieren zu können, die dem Mainstream entsprechen.

Die Kölner Richter haben eine bemerkenswerte und m.E. richtige Entscheidung getroffen, deren Argumentationsstränge weiter zu vertiefen sind.

Michael Rehder 18.07.201219:32 Uhr

Keep it simple - and godless

Bravo dem BVKJ, Bravo Herr Schätzler!

Das musste gesagt werden (und dürfen).

Versuchen wir es einfach zu halten:

- Beschneidung (eines gesunden m/w Kindes in der BRD) ist: Körperverletzung.
- wir leben (ich hoffe es so sehr) in einer Zeit, in der eventuell sinnvolle Verhaltensregeln aus früheren Zeiten (Verbot Schweinefleisch zu essen - Hygiene/Krankheitsgefahr; Beschneidung bei Knaben (Hygiene/Krankheitsgefahr) NICHT MEHR religiös-dogmatisch überwacht und zwanghaft, versehen mit rituellem Charakter, DURCHGEFÜHRT werden müssen.
- Wir sitzen ja auch nicht mehr am Lagerfeuer und jagen wehrlose Sündenböcke in die Wüste.
- Jeder darf an so viele Götter glauben wie er möchte, aber wir schädigen deshalb keine Menschen (Gods don''t harm!)

Viele aufgeklärte Grüße
Michael Rehder
FAfAM, Public Health

Dr. Thomas Georg Schätzler 18.07.201218:15 Uhr

Gar nicht Komisch!

Für mich ist Deutschland eine föderale, parlamentarische Demokratie mit Gewaltenteilung zwischen gewählter Legislative (Gesetzgebung), unabhängiger Judikative (Rechtsprechung) und an der Verhältnismäßigkeit der Mittel orientierter Exekutive (ausführende Staatsorgane). Als säkularisierte (weltliche) Staatsform einer Deutschen Bundesrepublik kennen wir eine Trennung von Staat und Kirche - das genaue Gegenteil eines monotheistischen und/oder fundamentalistischen Gottesstaates. Was soll daran bitte komisch sein?

Denn gerade unser Deutschland ist wegen seines eingangs beschriebenen offenen, pluralistischen und multikulturellen Systems geradezu prädestiniert, einen fundierten moralisch-ethischen, rechtlichen und religiösen Diskurs über rituelle Beschneidungen öffentlich und mit dem gebotenen Respekt gegenüber der freien Meinungsäußerung zu führen. Es ist ganz offenkundig nahezu weltweit evident, dass Beschneidungen bei weiblichen Nachkommen n i c h t unter das elterliche Erziehungsrecht fallen und n i c h t durch das Recht auf Religionsausübung sanktioniert sind.

Es ist die entscheidende Frage, ob wir nicht bei der Beschneidung männlicher Nachkommen auch unter Berücksichtigung einer jahrtausendealten, überlieferten Tradition zu einer vergleichbaren Ächtung kommen müssen? Denn der neugeborene Säugling und das heranwachsende männliche Kind sind nach unserem Grundgesetz nicht zustimmungsfähig bei gleichzeitigem Recht auf körperliche Unversehrtheit. Säuglinge und Kinder beiderlei Geschlechts sind auch n i c h t zur freien Verfügung stehendes Eigentum ihrer Eltern, an dem nach Belieben religiös motivierte, körperliche oder seelisch misshandelnde Eingriffe durchgeführt werden könnten.

Verfassungsrichter, ob am Bundesverfassungsgericht (BVerfG), am Europäischen Gerichtshof (EuGH) oder am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) werden eher nicht entscheiden, ob das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit mehr oder weniger wert sei, als das Diskriminierungsverbot bei Herkunft, Rasse oder Religion. Nein, sie werden in höchster Instanz zu entscheiden haben, ob medizinisch nicht indizierte blutige Beschneidungen bei blutjungen Kindern und deren fehlender Einsichts- und Zustimmungsfähigkeit mit unserer deutschen Verfassung, der UN-Charta (Beitritt Deutschland 6.6.1973) und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7.12.2000 vereinbar sind.

Meine Bild- und Textrecherchen zum Thema rituelle Beschneidung haben mich zu der (vorsichtigen) Einschätzung geführt, dass es sich dabei um eine Art symbolisches ("pars pro toto") Menschenopfer handelt, mit der die religiös verehrte Gottheit gnädig gestimmt werden soll. Die Vorhaut solle (teilweise) entfernt werden, um der Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft (Initiationsritus) Ausdruck zu verleihen. Paradoxerweise vereinigt dieser Ritus zwei Religionsgemeinschaften, die sich andernorts bis auf Messer bekämpfen und sogar ausmerzen wollen.

Wenn es darum geht, jahrtausendealte Traditionen zu verlassen, zu brechen oder symbolisch zu überformen, könnten die christlichen Religionen Vorreiter sein: Jahrhunderte wurden mit blutiger Unterdrückungsherrschaft Andersgläubiger, Pogromen, Glaubenskriegen, Gesinnungsterror, mit kolonial-imperialistischen Genoziden in Mittel- und Südamerika, erbarmungslosen Kreuzzügen gegen Islamgläubige und Juden, Hexenverfolgungen, Folter, Exorzismus, Züchtigungen und Misshandlungen Schutzbefohlener zugebracht. Die rituelle Taufe erfordert kein komplettes Untertauchen des Täuflings mehr. Das gemeinsame christliche Abendmahl wird symbolisch mit Oblaten, stellvertretend für den Leib Christi, bzw. mit Messwein statt des tatsächlichen Blut Christi rituell vollzogen. Das Aschekreuz am Aschermittwoch wird auch nicht mehr wie in früheren Zeiten in die Stirnhaut eingeritzt.

Wir müssen eingestehen, dass wir an einer Wende stehen. Scheinbar Selbstverständliches wird in Frage gestellt. Auch die eigentlich kleine Vorhaut, das Prä

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