Der Standpunkt

Bürokratie - Fluch und Segen

Der Verwaltungsaufwand in der GKV frisst Milliarden Euro. Doch Bürokratie hat auch ihre positive Seite. Sie schlicht als überflüssig zu verdammen, ist Populismus, meint Helmut Laschet.

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Der Autor ist stellv. Chefredakteur und Ressortleiter Gesundheitspolitik bei der Ärzte Zeitung. Schreiben Sie ihm: helmut.laschet@springer.com

40 Milliarden Euro absorbiert die Bürokratie im Gesundheitswesen - rund 13 Milliarden Euro davon überflüssig.

Drei Viertel der Bürokratielast tragen die Leistungserbringer, allein elf Milliarden Euro niedergelassene Ärzte und Zahnärzte.

Was man schon immer geahnt hat, scheint nun durch eine Studie der Unternehmensberatung A. T. Kearney belegt zu sein.

Doch was die Unternehmensberater bieten, ist weniger evidenzbasiert als vielmehr populistisch aufgeschäumt.

Aus nicht repräsentativen Umfragen im Wege von subjektiven Selbsteinschätzungen nicht näher definierte bürokratische Belastungen in Kosten zu beziffern, ist ökonomisch schlichtweg verwegen. Die Behauptung, der Gesundheitsfonds - der aus zwei Dutzend Mitarbeitern und einem Computersystem besteht - sei ein Bürokratie-Monstrum, ist ein gepflegtes Vorurteil, aber falsch.

Ein Branchenvergleich von Verwaltungskostenquoten - Gesundheitswesen 23 Prozent, Industrieunternehmen 6,1 Prozent - ist ökonomischer Unsinn, weil die Wertschöpfung in der Gesundheitswirtschaft ein Vielfaches der einzelner Industrieunternehmen beträgt.

Keine Frage, und in diesem Punkt liegt A. T. Kearney richtig: Komplexität und Pluralität treiben die Kosten für die Administration. Weitere, nicht erwähnte Aspekte treten hinzu: die enormen Anforderungen an die Sicherheit und die Leistungsqualität.

Ist ärztliche Dokumentation Bürokratie oder Bestandteil ärztlicher Arbeit? Ist der Nachweis der Wirksamkeit und Sicherheit einer Arzneimittelinnovation Forschung oder Bürokratie? Ist die Entwicklung neuer Vertragstypen - Stichwort Integrationsversorgung oder hausarztzentrierte Versorgung - nur ein Mehr ein Bürokratie oder nicht auch eine sinnvolle Neugestaltung des Leistungsangebots für komplexer werdende Patientenprobleme?

Man sieht: Bürokratie hat viele Gesichter, fraglos auch hässliche. Dann nämlich, wenn sie nicht mehr dient, sondern zum Selbstzweck wird. Doch danach haben die Studienautoren nicht gesucht - schade eigentlich.

Lesen Sie dazu auch: Bürokratie im Orkus

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Kommentare
Dr. Horst Grünwoldt 16.01.201218:07 Uhr

Büro-Herrschaft

Bürokratie kann natürlich niemals ein Segen für Betroffene in einem freiheitlichen Land, und insbesondere für Angehörige eines freien Berufes sein!
Die öffentliche Verwaltung der Interessen der Allgemeinheit oder die der besonderen Belange des Einzelnen in berufsständischen Selbstverwaltungen, hat sich stets beim "bürokratischen" Aufwand auf das nur notwendige Maß der Reglementierung zu beschränken und jeden Antrags-Fall aufgeschlossen und wohlwollend (nicht: wohlgefällig!) zu behandeln
Was dabei den Wust der Verwaltungs-Vorschriften anbelangt, sind diese so rahmengebend -und nicht beengend- zu formulieren , daß die Beurteilung des Einzelfalls immer personen- und sachgerecht vorgenommen werden kann.
Damit das nicht in Beliebigkeit und Willkür ausartet, bedarf es selbstverständlich (fach-)qualifizierter Verwalter - aber nicht Bürokraten.
Anderenfalls erblüht -wie in unserem unflexiblen Verwalterstaat mancherorts- die Bürokratie zu Auswüchsen der Bevormundung und jeden Fortschritt behindernden Sesselpupser-Herrschaft.
Ausdruck dafür dürfte die Auslastung unserer Arbeits- und Verwaltungsgerichte sein.
Dr. med. vet. Horst Grünwoldt, Rostock

Dr. Thomas Georg Schätzler 13.01.201215:03 Uhr

"Von der Wiege bis zur Bahre – Formulare, Formulare" (J. Nestroy 19. Jhdt.)

Grundsätzlich ist es aber sehr zu begrüßen, dass eine Diskussion über Licht- und Schattenseiten von Bürokratie und überbordender Verwaltung in der GKV angestoßen wurde. Denn o h n e die Studie der Unternehmensberatung A. T. Kearney würde Alles in seinem gewohnten bürokratischen Trott weiterlaufen. Populistisch sind allerdings auch die z. T. bizarren Abwehrreaktionen der größten Bürokratieproduzenten im gesetzlichen Krankenkassensystem: KVen und KBV, Krankenkassen, Pharmazie, Medizintechnik, Krankenhäuser, Personalverwaltungen, Gesetzgeber, Aufsichtsorgane, Behörden und Interessenverbände. Und die Exekutive, sprich Ärzte und Patienten, müssen es ausbaden.

Derzeit 153 Krankenkassen betreuen 51,4 Millionen Mitglieder plus 18,6 Millionen mitversicherte Familienangehörige. Geschäftsgrundlage ist für alle einheitlich und verbindlich das Sozialgesetzbuch V (SGB V). Aber jede GKV-Kasse nutzt mit Vorliebe und hohem Verwaltungsaufwand individuelle Ermessenspielräume zur Delegation in einem Wust von Anfragen an die Vertragsärzte/-innen.

2006 kam die Beratungsgesellschaft KPMG im Auftrag "meiner" KVWL allein bei Dokumentations- und Informationspflichten auf 65 Rechtsvorschriften mit 281 "Informationsanforderungen". Nur daraus resultierten bundesweit hochgerechnete Bürokratiekosten von 1,6 Milliarden Euro. N i c h t eingerechnet Verwaltungskosten, die sich auf die Unternehmereigenschaft des niedergelassenen Arztes gründen, auf die Verwaltung der Praxisgebühr und das Überweisungswesen.

Notwendige, sinnvolle Dokumentation, Qualitätssicherung und Transparenz mit adäquat bürokratischem Verwaltungsaufwand, soll den prozess-, ergebnis- und risikoadaptierten Informationsfluss qualitativ sicherstellen. Bürokratietreibend sind in der Tat Hyperkomplexität, Multidimensionalität und Paradoxien im Gesundheitswesen. Kammerpräsidenten diskutieren über Krankenkassenfragen, KBV-Vorstände über Medizinethik. Der GKV-Spitzenverband der Krankenkassen spricht meist in falscher Reihenfolge über ärztliche Untersuchung, Diagnostik, Beratung, Therapie, Linderung und Palliation. Wir Ärztinnen und Ärzte debattieren über Medikamentenpreise, Krankenkassenorganisation und Budgetzwänge. Infektiologiefremde Gesundheitspolitiker diskutieren über nichtvorhandene Pandemien und bestellen ungebrauchte Impfstoffe en gros.

Uns Allen widme ich den Reinhard-Mey-Song "Antrag auf Erteilung eines Antragsformular":
"Schicken Sie uns sofort
Einen Antrag auf Erteilung eines Antragsformulars,
Zur Bestätigung der Nichtigkeit des Durchschriftexemplars,
Dessen Gültigkeitsvermerk von der Bezugsbehörde stammt
Zum Behuf der Vorlage beim zuständ‘gen Erteilungsamt."

Mf+kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund

Dr. Karlheinz Bayer 13.01.201208:35 Uhr

Der Kommentar reizt zum Widerspruch


Beispiel Abrechnung, noch frisch im Kopf, da vor 2 Wochen erst erfolgt.
Das Computerprogramm meldet mir, daß in rund 15 Fällen Dauerdiagnosen gelöscht wurden. Ist das von Bedeutung? Ich habe nachgeschaut. Aus eiuner Coxarthrose wurde z.B. ein TEP. Eine Poliospätfolge wurde in Gangbildstörung geändert.
Alles wichtig? Wofür? Für meine Arbeuit sicher nicht. Und Mitarbeiterinnen der Kasse können ébenfalls nicht nachvollziehen warum was gemacht wurde. Aber dann tauchen diese Dinge irgendwo in Plausibilitätsfragen oder in Chronikerfragen oder in Fragen der ICD-Codierung auf.
ICD Codierung! Ein Segen oder ein Fluch? Rund die Hälfte der Diagnosen, die ich bräuchte finde ich nicht. Also nehme ich andere. Laut Abrechnung 4,7 Diagnosen pro Abrechnungsfall. In vielen Fällen würde mir ein Befund statt einer Diagnose ausreichen.
Dokumentation sagen Sie. Ist es sionnvoll eine Dokumentation aus ICD-Codes zu haben, die nicht zutrifft? Ich bin Chirotherapeut. In der weggeschicktzen ICD-Startistik tauchen andere Diagnosen auf als die in meiunen handschriftlichen Aufzeichnungen. Dort steht BWS-Facettenblockade Th7 re. Sie brauchen garnicht zu suchen, der ICD kennt das nicht, ebenso wenig wie Supraspinatus-Läsion oder Beinheberschwäche oder Psoasereizung.
Also, für wen mache ich diese angebeliche Dokumentation?
Nicht für mich, nicht für den Patienten. Allenfalls für die Statistik, ggf. für eine Plausibilitätsprüfung, ggf. für den Risikostrukturausgleich.
Das ist jetzt nur ein Beispiel. Man könnte Dutzende anfügen. So daß ich z.B. gestern 8 Anfragen der Kassen über das Fortbestehen einer Krankheit ausgefüllt habe, 6 davon bei Krankheitsdauern von weniger als 2 Wochen. Ist das sinnvoll? Oder doch nur meine Zeit geopfert und unser aller Beiträge ...

Dr.Katlheinz Bayer, Bad Peterstal

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