Sexueller Missbrauch
Das Vertrauen in die Religion bleibt für immer erschüttert
Viele Opfer sexuellen Missbrauchs in Kirchen oder Schulen konnten ihr jahrelanges Schweigen erst vor vier Jahren brechen: Mit der Hilfe von Missbrauchs-Hotlines. Jetzt liegen erste Auswertungen vor. Doch die Forschung ist noch längst nicht am Ende.
Veröffentlicht:BERLIN. Bei der Jahrestagung der DGPPN in Berlin haben Wissenschaftler Auswertungen zweier großer Missbrauchs-Hotlines vorgelegt, die im Gefolge der Missbrauchsskandale am Berliner Canisius-Kolleg und an der Odenwald-Schule eingerichtet worden waren.
Ausgewertet wurden einerseits die Hotline des Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung (UBSKM-Hotline), andererseits die Ende 2012 eingestellte Hotline der Deutschen Bischofskonferenz.
Situationen: Beichte, Nachhilfe, Gesangsstunde
Die Daten der UBSKM-Hotline erlaubten einen gewissen Vergleich der Missbrauchsmuster und Missbrauchsfolgen bei katholischen, evangelischen und nicht-konfessionellen Institutionen, sagte Professor Jörg Fegert, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Uniklinikum Ulm.
Ausgewertet wurden rund 7000 Datensätze aus den Jahren 2010 und 2011. Dabei zeigte sich, dass die meisten der gemeldeten Missbrauchsfälle unabhängig vom Träger der Institution in den 1950er, 19 60er und 1970er Jahren stattfanden. "Seither scheint die Zahl der schwerwiegenden Missbrauchsfälle in Institutionen abzunehmen", so Fegert.
Grundsätzliche Unterschiede in den Missbrauchsmustern zwischen kirchlichen und nicht-kirchlichen Institutionen gebe es nicht, so Fegert. Typischerweise werde mit den Opfern schleichend ein Vertrauensverhältnis aufgebaut, das dann ausgenutzt werde.
Dabei werden im jeweiligen Kontext gezielt Einzelsituationen ausgenutzt, in der Kirche etwa die Beichte, in anderen Institutionen Nachhilfestunden oder auch der Gesangsunterricht.
Auffällig sei, dass unter den Anrufern bei der staatlichen Hotline das Thema einer finanziellen Kompensation mit immerhin 37,7 Prozent deutlich häufiger angesprochen wurde, als bei der kirchlichen Hotline, bei der nur 13 Prozent der Anrufer über Kompensationen sprechen wollten.
Mehr Vertrauen in staatliche Hotline
Dies zeige, wie wichtig eine unabhängige Aufarbeitung von Missbrauchsfällen ist, betonte Fegert. Die Betroffenen hätten bei der staatlichen Hotline offensichtlich eher das Vertrauen, dass ihre Anliegen Gehör finden.
Einige interessante Zusatzaspekte brachte der Fachverantwortliche der Hotline der Bischofskonferenz, Dr. Andreas Zimmer vom Bistum Trier, in die Diskussion. So erlauben die Daten der kirchlichen Hotline einen Vergleich zwischen Diözesen.
Dabei zeigt sich, dass der "Peak" der Missbrauchsfälle stark variiert. Er liegt in manchen Diözesen in den 40er Jahren, bei vielen in den 1950er bis 1970er Jahren, teils aber auch erst in den frühen 1980er Jahren.
Dies spiegele die große Bedeutung einzelner Täter wider sowie die Bedeutung der Bereitschaft einzelner Institutionen, Missbrauchsfällen zu tolerieren oder nicht zu tolerieren, so Zimmer. Die These, wonach Missbrauch in Institutionen vor allem eine Folge des gesellschaftlichen Klimas in den 1950er bis 1970er Jahren gewesen sei, wird dadurch zumindest relativiert.
Die Auswertung der kirchlichen Hotline zeigt auch, dass viele Missbrauchsopfer in kirchlichen Institutionen über ihren psychischen und gesundheitlichen Schaden hinaus eine Art spirituellen Schaden davontragen. "Viele unserer Anrufer hatten ursprünglich einen sehr vitalen Zugang zur Religion", so Zimmer.
Religiosität war oft eine Art Coping-Strategie für Probleme, bevor die sexuelle Gewalt das Vertrauen in die Religion erschütterte und diesen Coping-Weg versperrte.
Was bleibe, sei oft eine unerfüllte Sehnsucht nach Religiosität und nach Sinn, die von vielen als sehr belastend empfunden werde.
Unterschiedliche Strukturen und Dynamiken
Um weitere Erkenntnisse bei der Aufarbeitung des kirchlichen Missbrauchs zuerhalten, wurde kürzlich ein interdisziplinäres Forschungsprojekt neu vergeben. Projektkoordinator Professor Harald Dreßing vom Zentralinstitut (ZI) für Seelische Gesundheit in Mannheim gab bei der DGPPN-Jahrestagung einen Überblick über die geplanten Forschungsaktivitäten bis Ende 2017.
Ziel sei es vor allem, die Strukturen und Dynamiken des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche offenzulegen. Es gehe darum, aufzuzeigen, wodurch Tatvorgänge in kirchlichen Einrichtungen begünstigt werden.
Fragen, die das Projekt beantworten soll, lauten unter anderem: Gibt es typische Muster, die Missbrauch in der katholischen Kirche von anderen Formen des Missbrauchs unterscheiden? Gibt es besondere Folgen bei Missbrauch in konfessionellen Einrichtungen? Und gibt es Unterschiede zwischen Übergriffen von Priestern und nicht ordinierten Kirchenangestellten?
Dabei sollen die Sichtweisen und Erfahrungen der Betroffenen im Vordergrund stehen. Im Vergleich zum gescheiterten Vorgängerprojekt soll das neue Projekt der Deutschen Bischofskonferenz die Erforschung des Missbrauchs in der katholischen Kirche stärker interdisziplinär angehen.
Die quantitative Analyse von Personalakten, die bei dem ersten Projekt im Vordergrund gestanden habe, sei jetzt nur eines von sechs Teilen, so Dreßing.Beginnen wollen die Wissenschaftler im Teilprojekt eins mit einer qualitativen Erfassung zur Verfügung stehender Daten anhand von Akten in den Diözesen. Es folgt eine biografische Analyse in Form von Interviews mit Betroffenen und Tätern.
Für das Teilprojekt drei werden bundesweit Strafrechtsakten ausgewertet, um zu sehen, ob die gerichtliche Aufarbeitung von Missbrauchsfällen in Diözesen anders verläuft als bei anderen Missbrauchsfällen. Ein weiteres Teilprojekt beschäftigt sich mit Präventionsansätzen. Außerdem ist eine Metaanalyse vorhandener Untersuchungen zum kirchlichen Missbrauch geplant.
Dreßing betonte, dass in dem Projektvertrag mit der Bischofskonferenz und den Diözesen ausdrücklich festgehalten sei, dass alle Ergebnisse unabhängig veröffentlicht würden. Die Ergebnisse bezögen sich aber ausschließlich auf Missbrauchsfälle im Verantwortungsbereich der Bischofskonferenz.
Missbrauchsfälle im Verantwortungsbereich kirchlicher Orden bleiben also außen vor. Keinen Einfluss haben die Wissenschaftler darauf, welche Konsequenzen die Bischofskonferenz aus den Ergebnissen des Projekts zieht, so Dreßing. Geplant sei aber, entsprechende Vorschläge zu machen.