Immer mehr MPH-Verordnungen

Die Generation ADHS

Für die Barmer GEK steht fest: In Deutschland wächst eine "Generation ADHS" heran. Immer mehr Kinder bekommen Methylphenidat verschrieben. Wissenschaftler fragen: Wird in Deutschland "Schuldoping" betrieben?

Anno FrickeVon Anno Fricke Veröffentlicht:

BERLIN. Für die Barmer GEK steht fest: In Deutschland wächst eine "Generation ADHS" heran. Rund 750.000 Mal diagnostizierten Ärzte im Jahr 2011 die Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung.

Das war gegenüber dem Jahr 2006 ein Anstieg um fast 50 Prozent von 0,61 auf 0,92 Prozent der Bevölkerung.

Die Zahlen hat die Barmer GEK für den "Arztreport 2013" aus den Daten ihrer acht Millionen Versicherten auf die Bevölkerung in Deutschland hochgerechnet.

Vor allem junge Menschen leiden demnach gemäß ärztlicher Diagnose am "Zappelphilipp-Syndrom". 2011 waren 620.000 Kinder und Jugendliche betroffen, davon 472.000 Jungen.

Im Alter von elf Jahren bekamen rund sieben Prozent aller Jungen und zwei Prozent der Mädchen in Deutschland Methylphenidat verordnet. Die Substanz unterliegt dem Betäubungsmittelgesetz.

Für Methylphenidat gebe die Barmer GEK im Jahr etwa zehn Millionen Euro aus. Hochgerechnet auf alle gesetzlichen Kassen seien dies gut 100 Millionen Euro im Jahr, sagte Barmer GEK-Vize Dr. Rolf-Ulrich Schlenker.

Am häufigsten treffe die Diagnose die Zehnjährigen beim Übergang von der Grundschule in weiterführende Schulen, heißt es in der Untersuchung.

Das Risiko einer ADHS-Diagnose sinkt mit dem Bildungsniveau der Eltern und steigt, wenn die Eltern Hartz IV-Leistungen beziehen, geht aus dem Report hervor. Kinder jüngerer Eltern laufen eher Gefahr, an ADHS zu erkranken als die, deren Eltern zwischen 35 und 39 Jahre alt sind.

Eltern auf dem falschen Weg?

Bei den Autoren des Reports vom Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung (ISEG) in Witten haben die Zahlen und der Zeitpunkt der häufigsten Erstdiagnose Zweifel geweckt.

"Betreiben wir befristetes Schuldoping oder behandeln wir eine Krankheit?", fragte Professor Friedrich Wilhelm Schwartz vom ISEG bei der Vorstellung des Arztreports am Dienstag in Berlin.

Methylphenidat wirke nur auf die Symptome und sei keine Krankenbehandlung. Werde es abgesetzt, kämen die Anzeichen von ADHS zurück, als sei nie therapiert worden.

Es könne nicht Aufgabe einer Krankenkasse sein, das Ruhigstellen von Kindern zu finanzieren, sagte Schwartz. Es gebe auch Hinweise darauf, dass die Zunahme der ADHS-Diagnosen angebotsinduziert sei.

Wo es mehr Kinder- und Jugendpsychotherapeuten gebe, stiege die Zahl der Diagnosen an, sagte Schwartz. Hinweise auf Fehldiagnosen gebe es nicht, sagte Dr. Thomas Grobe vom ISEG.

Barmer GEK-Vize Dr. Rolf-Ulrich Schlenker bewertete die Diagnosehäufigkeit als "inflationär". Offensichtlich gelinge die Abgrenzung zwischen altersgemäßer Entwicklung und Krankheit nicht immer.

Schlenker forderte die Fachgesellschaften auf, klare Kriterien für die ADHS-Diagnose zu entwickeln. Zudem kritisierte er die Menge an Methylphenidat-Verordnungen. "Pillen gegen Erziehungsprobleme sind der falsche Weg", sagte Schlenker. Es gebe Alternativen wie Verhaltens- und Ergotherapie.

Eine Studie, die die Techniker Krankenkasse am Dienstag veröffentlicht hat, kommt zu dem Ergebnis, dass die Gabe von Methylphenidat an jugendliche ADHS-Patienten Jahreskosten von 480 Euro verursache, die alternativen Therapien dagegen mit rund 1700 Euro zu Buche schlügen.

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Kommentare
Dr. Hans-Jürgen Kühle 30.01.201317:36 Uhr

Nicht die Eltern sind auf dem falschen Weg, sondern die „Wissenschaftler“ auf dem Holzweg!

Wann entsteht denn Leidensdruck? Dann, wenn die familiären Kompensationsmechanismen versagen: Und das ist eben häufiger bei jungen Eltern und dann, wenn in der Schule die Anforderungen steigen. In Intelligenztests zeigen diese Kinder meistens deutlich, dass sie es eigentlich könnten.
Ruhigstellung war und ist nie das Ziel ärztlichen Handelns bei ADHS. Sondern: die Kinder sollen ihre Fähigkeiten kontinuierlich nutzen können. Dann kann sich bis zum Abschluss der Pubertät eine Persönlichkeit mit gefestigtem Selbstvertrauen entwickeln anstelle einer Persönlichkeit, die aufgrund vieler Selbstzweifel außengesteuert und leicht beeinflussbar ist.

Dr. Fritz Gorzny 30.01.201317:06 Uhr

Vor Ritalin Therapie auf assoziierte Heterophorie untersuchen

Wenn der Leistungsdruck ab der dritten Grundschulklasse und nach dem Übergang in die weiterführenden Schulen rapide ansteigt, bleibt ein Teil der Schüler auf der Strecke und die Eltern gearten in Panik. Dann wird schnell die Diagnose AD(H)S gestellt und Ritalin verordnet, sicher mit einigem Erfolg. In den meisten Fällen zeigen diese Schüler aber auch Defizite im Lesen und Schreiben. Ursache ist dann in den meisten Fällen eine assoziierte Heterophorie vulgo "Winkelfehlsichtigkeit". Erfolgt die Korrektion der Heterophorie mit einer Prismenbrille nach den Kriterien der Mess- und Korrktionsmethode nach H.J.Haase, treten sehr rasch Verbesserungen der visuellen Wahrnehmung ein mit Herstellung einer besseren Lese- und Rechtschreibfähigkeit.Brauchten die Kinder vorher stundenlang um Texte zu entschlüsseln und sinnvoll zu lesen und ermüdeteten in der Regel nach kurzer Zeit, bessert sich die Leistungsfähigkeit rasch, Aufmerksamkeit und Konzentration werden aktiviert und die Schüler finden wieder Anschluß an die Klassengemeinschaft, Lern-und Lebensfreude kehren zurück.
Leider sind diese Zusammenhänge weitgehend unbekannt.
Infos unter IVBS.org
Dr.Fritz Gorzny, Augenarzt, Vizepräsident der Internationalen Gesellschaft für Binokuares Sehen(IVBS)

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