"Für Behinderte gibt es keine freie Arztwahl"
Ärztetag 2009 in Mainz: Einstimmig forderten die Delegierten, sich verstärkt für eine bessere Versorgung von Menschen mit Behinderung einzusetzen. Ein Jahr danach: Das Thema wird diskutiert, doch große Verbesserungen für Patienten gibt es nicht.
Von Rebecca Beerheide
DRESDEN. Mehr Einsatz von Ärzten, mehr Interesse an den speziellen Bedürfnissen von Behinderten: Das waren einige der Kernforderungen des 112. Ärztetages, der vergangenes Jahr in Mainz auch über die medizinische Versorgung von Menschen mit Behinderung diskutiert hat.
Das ist ein Jahr her. Zügige, fundamentale Änderungen in der medizinischen Versorgung für diese spezielle Patientengruppe konnte man innerhalb der Zeit nicht erwarten. Die Situation der Versorgung für Erwachsene mit Behinderung in Deutschland ist denkbar schlecht: Auf ein enges Netz, wie es das zum Beispiel mit den Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) für Kinder und Jugendlichen gibt, können Erwachsene nicht zurückgreifen. Gründe für die Versorgungslücke gibt es viele - auch dass Behinderte dank des medizinischen Fortschritts eine deutlich höhere Lebenserwartung haben.
Schon vor einem Jahr resümierte Dr. Helmut Peters, ärztlicher Leiter des Kinderneurologischen Zentrums in Mainz, die Situation: "Das gesellschaftliche System hat sich auf die Versorgung von erwachsenen Menschen mit Behinderung noch gar nicht eingestellt." Aber das Nachdenken habe begonnen und das Problem sei gerade bei den Kostenträgern angekommen, sagt Peters in einem Gespräch mit der "Ärzte Zeitung" ein Jahr nach dem Ärztetag in Mainz.
Und es gibt weiter Licht und Schatten: Auf einem Kongress zum Thema stationäre Versorgung von Menschen mit Behinderung in Berlin zu Beginn des Jahres 2010 sagte Dr. Bernd Metzinger von der Deutschen Krankenhausgesellschaft, er habe zum ersten Mal von Problem der Behinderten in Kliniken gehört. Ungläubiges Stöhnen aus dem Publikum begleiteten seine Ausführungen.
Dennoch: Das Thema, wie die Versorgungslücke für Erwachsene mit Behinderung geschlossen werden kann, ist angekommen. Das nimmt auch Brigitte Faber von Weibernetz, der politischen Interessenvertretung von behinderten Frauen, wahr. "Wenn wir auf Bundesebene darüber sprechen, gibt es seit zwei Jahren deutlich mehr Verständnis. Wenn ich vor Ort mit Ärzten über Barrierefreiheit rede, sehen sich viele aber nicht in der Verantwortung", sagt Faber, die als Patientenvertreterin zwischen 2004 und 2007 im Gemeinsamen Bundesausschuss saß, im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung".
Ein Besuch in der Arztpraxis ist für Behinderte mit vielen Hindernissen verbunden: Sei es, dass nur sehr wenige Praxen barrierefrei sind, sei es, dass sich wenig Ärzte für die zeitintensivere Betreuung von Patienten Freiräume nehmen. Gerade gynäkologische Praxen haben selten die Möglichkeit, behinderten Patientinnen gerecht zu werden. Der Untersuchungsstuhl ist nicht höhenverstellbar, Umkleiden und Toiletten zu klein. Dazu komme, dass die Praxen, die Behinderte betreuen, selten mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar sind. "Das Prinzip der freien Arztwahl gibt es für Patienten mit Behinderung nicht", resümiert Faber. Doch dieses Prinzip schreibt die UN-Behindertenrechts-Konvention, die Deutschland 2008 ratifiziert hat, vor.
Ein Schritt in diese Richtung könnten Medizinische Zentren für Erwachsene Behinderte (MZEB) sein, die aus bisherigen Modellprojekten entstehen könnten. In den MZEB sollen, ähnlich der SPZ für Kinder, bei speziellen Diagnosen Erwachsene versorgt werden. Ein solches Modellprojekt will Dr. Peters vom Kinderneurologischen Zentrum in Mainz starten. Ob weitere Standorte dazu kommen, wird sich in den kommenden Monaten zeigen.