Kommentar zur Bundestagswahl

Gebt den Wählern ihr Dreierbündnis!

Zu viele vage Antworten auf komplexe Fragen – auch in der Gesundheitspolitik – haben den krachenden Niedergang der Union beschleunigt.

Wolfgang van den BerghVon Wolfgang van den Bergh Veröffentlicht:

Geschichtsunterricht im Oktober 1969. Unser damaliger Lehrer versuchte, uns klar zu machen, dass politischer Wechsel etwas ganz Normales ist und zum Wesen der Demokratie gehört. Denn was die Nachkriegsgeneration in den 1950er- und 1960er-Jahren gelernt hatte, waren zwei Dinge: Erstens, eine Bundesregierung wird immer von der Union angeführt. Zweitens, für den Fall, dass der Kanzler wechselt, bestimmt immer noch die Union die Nachfolge. Erst Mitte der 1960er-Jahre durfte die SPD als Juniorpartner der ersten großen Koalition Regierungsverantwortung mit übernehmen. Den Wechsel gab’s dann erst mit der Wahl von Willy Brandt 1969.

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Wechselstimmung in Deutschland im Herbst 2021. Wenige Tage nach der Bundestagswahl ist das sicher. Sicher ist aber längst nicht, dass Olaf Scholz Kanzler werden wird. Und das, obwohl die Wähler der SPD Stimmenzuwächse beschert und die Union auf ein historisches Tief katapultiert haben. Seit dem Wahlabend wissen wir, dass auch die Kompetenzwerte in vielen von der Union vormals dominierten Feldern wie Wirtschafts-, Außen- und Steuerpolitik laut infratest dimap in den Keller gerauscht sind. Die Gesundheitspolitik bildet dabei mit minus acht Prozent noch eine Ausnahme, wenngleich dies für den ambitionierten Gesundheitsminister Jens Spahn alles andere als ein Traumergebnis ist. Fakt ist: In der Union rumort es gewaltig.

Erinnert sei ans Frühjahr, als der Wahlkampf nicht so richtig zünden wollte. Warum auch? Die Sache schien klar – auch die vielen Demoskopen, die eine SPD zwischen 14 bis 16 Prozent sahen, hatten sie für eine Regierungsbeteiligung oder gar Führung längst abgeschrieben. Die Grünen auf Distanz halten und auf den letzten Metern punkten. Das war das Kalkül der Union. Eine grandiose Fehleinschätzung, die in erster Linie darauf beruhte, dass im Fahrwasser einer immer noch beliebten Kanzlerin Merkel der Sieg reine Formsache zu sein schien. Im Gegenteil: Die selbstzerstörerischen Anwandlungen bei der Kandidatenwahl, permanente Sticheleien aus München, wo auch die CSU seit Monaten im Abwärtstrend lag und sich am Sonntag noch knapp über 30 Prozent retten konnte. Und schließlich ein viel zu spät und zu grob zusammengeschustertes Programm mit vagen Antworten auf komplexe Fragestellungen. Übrigens auch in der Gesundheitspolitik, wo ein Festhalten an alten Strukturen, garniert mit ein bisschen mehr Digitalisierung, den Weg weisen soll.

Das sind nicht die Ideen und schon gar nicht die Antworten auf die demografische Entwicklung und die künftigen Herausforderungen in der Gesundheitsversorgung. Das mag schließlich auch eingefleischte Unions-Wähler vergrätzt haben. Knapp 1,4 Millionen sind laut infratest dimap zur SPD gewechselt. Richtig, die Herausforderungen heute lassen sich nicht mit denen von vor 60 Jahren vergleichen. Die Parteienlandschaft hat sich ebenso wie die Gesellschaft gewandelt. Aus Protestbewegungen sind etablierte Parteien geworden.

Die Idee von Zweier-Koalitionsbündnissen könnte mit wenigen Ausnahmen möglicherweise Geschichte sein. Der Wähler hat einen klaren Auftrag an ein Dreierbündnis formuliert: Findet inhaltlich eine gemeinsame Schnittmenge und schafft eine solide Mehrheit. Und wenn damit die beiden möglichen Juniorpartner FDP und Grüne am Mittwoch beginnen, ist das ein richtiges Signal. Auch hier könnte die Gesundheitspolitik mit zwei interessanten Optionen eine Rolle spielen, wobei die großen Hürden sicherlich bei der Wirtschafts-, Steuer- und Finanzpolitik sein werden. Am Ende bleibt dann die spannende Frage: Mit welchem Kanzler?

Schreiben Sie dem Autor: vdb@springer.com

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