Megatrends der Gesundheitspolitik

"Gesundheitsreformen aus einem Guss sind eine Illusion"

Die Zeit der ideologischen Auseinandersetzungen in der Gesundheitspolitik ist vorbei, meint der Chef des BKK-Dachverbands Franz Knieps. Den Glauben an die große umfassende Reform hat er verloren.

Von Susanne Werner Veröffentlicht:

BERLIN. "Die große Gesundheitsreform, die umfassende Lösungen bringt, ist eine Illusion. Von diesem Gedanken muss man sich verabschieden", sagt Franz Knieps. Der heutige Vorstand des BKK-Dachverbandes muss es wissen. Er begleitet die Gesundheitspolitik seit rund 30 Jahren, war Referent beim AOK-Bundesverband, später im Bundesgesundheitsministerium und im Zuge der deutsch-deutschen Wiedervereinigung auch letzter Direktor der DDR-Sozialversicherung.

Im Berliner Spreestadt-Forum hat er kürzlich die gesundheitspolitischen Megatrends der vergangenen 25 Jahre nachgezeichnet.

"Lahnstein war ein Meilenstein"

Ein Meilenstein der Gesundheitspolitik war demnach der "Kompromiss von Lahnstein". Dieser führte zum Gesundheitsstrukturgesetz von 1993 und eröffnete den Versicherten die freie Wahl ihrer Krankenkasse von 1997 an. Starke Impulse der Modernisierung verbindet Knieps auch mit der Gesundheitsreform von 2003. Diese ermöglichte den Ärzten, in unterschiedlichen Rechtsformen zusammen zu arbeiten.

Zudem wurde darin die Einrichtung eines Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) sowie des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) beschlossen.

Die rot-grüne Koalition beschloss damals auch den - heute wieder umstrittenen - Sonderbeitrag von 0,9 Prozent nur für Arbeitnehmer.

Die Debatten in der Gesundheitspolitik, so diagnostizierte Knieps im Rückblick, haben sich im Laufe der Jahre eher ideologisch entschärft. Unter den Gesundheitsministern Ulla Schmidt (SPD) und Norbert Blüm (CDU) waren die Auseinandersetzungen zwischen Politikern und Selbstverwaltung deutlich härter: "Heute weht ein laues Lüftchen, damals fand die Randale auf den Straßen täglich statt", erinnert sich Knieps.

Wo werden ethische Grenzen liegen?

Vielleicht sind aber auch die Erwartungen der Akteure mittlerweile gesunken. Schließlich erweisen sich die Gesundheitsreformen seit den 80er Jahren als Dauerbrenner. Sie reihten sich aneinander, ohne dass die Probleme abschließend gelöst werden konnten. Heute ist klar, so Knieps, dass es eine Reform aus einem Guss nicht gibt, sondern eine permanente Anpassung nötig ist. "Sicher ist, dass wir auch in Zukunft alle vier Jahre eine Reform brauchen werden", sagte Knieps.

Eine kluge Politik sollte dann versuchen, fortlaufend "Reformviren" im System zu implementieren - in der Hoffnung, dass sie die positive beabsichtigte Wirkung entfalten.

Wo diese Reformanstöße aktuell nötig sind, machte Knieps beim Blick in die Zukunft deutlich: Beim sozial-demografischen Wandel, bei der medizinischen Versorgung von Flüchtlingen und bei der Weiterentwicklung der Gesundheitsberufe. "Künftig werden wir auch über eine ethische Grenzziehung beim Behandlungsspektrum nachdenken - wenn beispielsweise Menschen am Lebensende gar nicht mehr behandelt werden wollen", erklärte er.

Als problematisch stufte er die ungleiche Verteilung der Gesundheitschancen in der Gesellschaft ein sowie den Fokus auf "Arzt und Akutmedizin".

Ein Rahmen für PKV und GKV

Auf der Agenda für die nächsten Jahre sieht er vor allem zwei "große Reformbaustellen": So müsse zum einen ein einheitlicher Rahmen für die private und gesetzliche Krankenversicherung geschaffen werden. Dadurch könnte "die Leistungsfähigkeit auf der Einnahmeseite" sowie der Wettbewerb um Qualität und Effizienz der Versorgung auf der Ausgabenseite besser berücksichtigt werden.

Zum anderen gehe es darum, ein integriertes, patientenorientiertes Versorgungssystem aufzubauen. Dieses müsse die Sektorengrenzen - "insbesondere bei der Kapazitätssteuerung" - überwinden und zudem Prävention, Rehabilitation und Pflege aufwerten.

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Kommentare
Dr. Wolfgang Bensch 20.02.201623:10 Uhr

Lahnsteiner "Meilenstein" war der Risikostrukturausgleich - Seehofer shooting star in Bonn am Rhein!

"Den Risikostrukturausgleich", pflegt Ex-Gesundheitsminister Horst Seehofer zu scherzen, "verstehen drei Leute. Und ich gehöre nicht dazu."
(nach Frankfurter Rundschau 9.11.2001)

Dr. Thomas Georg Schätzler 19.02.201611:18 Uhr

Umdeutung von Krankheit in Gesundheit?

Man kann es nachzählen: Hier findet nicht nur eine semantische Umdeutung von Krankheit in Gesundheit statt. Der Wortstamm "-Gesundheit" taucht 16-mal auf. Der Begriff "Krankheit" nicht ein einziges Mal, wenn man von der 2-maligen Erwähnung "Krankenkasse" absieht.

Medizin-bildungsfremde- und Versorgungs-ferne "Gesundheits"-Experten versuchen, die Deutungshoheit zum Themenkomplex "Krankheit" besonders denjenigen zu entreißen, die damit professionell diagnostisch und therapeutisch umgehen: Ärztinnen und Ärzte bzw. traditionelle Kranken-Pflegeberufe, die bereits als "Gesundheitspfleger/-in" tituliert werden und alle anderen, die unter der Rubrik "Gesundheitsberufe" subsummiert werden.

Gleichzeitig wird ein Netz von Kommissionen, Konferenzen und Konsultationen eingerichtet, in der die Medizin und ihre Krankheitsentitäten gegenüber Gesundheitsdominanz bzw. dem Primat von Ökonomie und Politik zurücktreten müssen:
• Gemeinsamer Bundesausschusses (GBA)
• Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)
• Spitzenverband Bund der Krankenkassen (SpiBu)
• Bundesministerium für Gesundheit (BMG)
• Landesministerien für Gesundheit (LMG)
• Gesundheitsministerkonferenz der Länder (GMK)
• Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR)
• Informationssystem der Gesundheitsberichterstattung des Bundes (IS-GBE)
• Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
• Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG)
• usw. usf.

Die eigentlichen Akteure und Experten in der ambulanten/klinischen Versorgung von Kranken, chronisch Leidenden und Behinderten werden gemeinsam mit den betroffenen Patientinnen und Patienten quasi "gesundheitsdiktatorisch" zunehmend an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Weil man Krankheit und Krankenversorgung nicht mal mehr beim wirklichen Namen nennen will. Man spricht nicht mehr m i t den Kranken in Not und Pein, sondern nur noch mit nicht genügend Gesundheits-Willigen.

Mf+kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund

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