Solidago

"Gesundheitswesen ist zum Gesundheitsapparat geworden"

Das Gesundheitssystem soll dem Wohl des Menschen dienen, meinen die Vorstände des Solidago-Bundesverbands Cornelia Wiethaler und Reiner Neureuther-Wiethaler. Wer zahlt, soll über Leistungen entscheiden können.

Von Pete Smith Veröffentlicht:
Cornelia Wiethaler (50) und ihr Mann Reiner Neureuther-Wiethaler (54) sind Vorstände des Solidago-Bundesverbands.

Cornelia Wiethaler (50) und ihr Mann Reiner Neureuther-Wiethaler (54) sind Vorstände des Solidago-Bundesverbands.

© Smith

Ärzte Zeitung: Wo liegen für Sie derzeit die Schwachpunkte im deutschen Gesundheitssystem?

Cornelia Wiethaler: Zunächst einmal darin, dass die Leistungsfinanzierer keine Entscheidungsrechte über die Leistungskataloge haben. Hinzu kommt der Zeitfaktor. Aufgrund der Vergütungssysteme haben die Leistungserbringer oft zu wenig Zeit für ihre Patienten.

Der dritte Punkt ist die Vermarktlichung des Gesundheitswesens: Am besten verdient man am kranken, schwerkranken Menschen. Darauf ist das ganze System ausgerichtet, das halte ich für fatal.

Reiner Neureuther-Wiethaler: Die Kommerzialisierung verzerrt den eigentlichen Sinn des Gesundheitswesens, nämlich dem Wohl des Menschen zu dienen. Das Gesundheitswesen ist längst zum Gesundheitsapparat geworden.

Was setzt eine Solidargemeinschaft wie Solidago dem gängigen Marktmodell entgegen?

Cornelia Wiethaler: Wir ersetzen das Äquivalenzprinzip durch das Solidarprinzip, sowohl bei der Beitragsgestaltung als auch bei der Risikoberechnung. Wir sichern uns gegenseitig die Freiheit der Therapiewahl zu. Wir setzen auf Eigenverantwortung.

Wir wollen uns nicht kontrollieren, sondern wir verpflichten uns, einander zu helfen. Das entlastet den Einzelnen, verbindet uns untereinander und wirkt sogar beglückend.

Reiner Neureuther-Wiethaler: Die Krankenversicherung, wie wir sie heute kennen, geht im Wesentlichen auf Strukturen zurück, die Bismarck mit geschaffen hat, wo es letzten Endes darum ging, wie die Arbeitskraft der Menschen erhalten werden kann. Im Vordergrund steht im klassischen Sinn ein pathogenetischer Ansatz: Beschäftigung mit der Entstehung und Abwendung von Krankheit.

Unser Leitbild hingegen ist vom Konzept der Salutogenese geprägt - ohne die Pathogenese auszuschließen. Der Schwerpunkt liegt also auf der Frage: Was hält mich gesund? Was fördert meine Gesundheit? Das schließt den Job, die Familie und das soziale Umfeld ein.

Außerdem glaube ich, dass unser Gesundheitswesen davon profitiert, wenn wir neben der Schulmedizin auch Heilkunstkulturen wie die Traditionelle Chinesische Medizin, Ayurveda oder die Anthroposophische Medizin einbeziehen. Unsere Mitglieder sollen ihre eigenen Erfahrungen machen dürfen, was ihnen davon am besten hilft.

Das setzt ein bestimmtes Menschenbild voraus.

Cornelia Wiethaler: Wir sind der Überzeugung, dass wir Gemeinschaftswesen und überwiegend vernünftig sind und dass wir in der Wahrnehmung der Gemeinschaft auch für andere gut sorgen können. Das Bild vom individuellen Nutzenmaximierer, dem Homo oeconomicus, ist uns zu einseitig.

Spiegelt sich dieses Menschenbild auch in der Mitgliederstruktur von Solidago?

Reiner Neureuther-Wiethaler: Überraschenderweise üben viele unserer Mitglieder Gesundheitsberufe aus: Ärzte, Therapeuten, sogar Mitarbeiter von Krankenkassen. Ansonsten ist unsere Mitgliederstruktur eher von den rechtlichen Rahmenbedingungen geprägt - die meisten sind selbstständig.

Cornelia Wiethaler: Am liebsten wäre uns eine gute Mischung, dass sich ein adäquater Schnitt der Bevölkerung bei uns wiederfindet. Deshalb brauchen wir eine rechtliche Anerkennung.

Kann denn im Prinzip jeder Mitglied bei Solidago werden?

Cornelia Wiethaler: Ja. Sofern er die Bereitschaft hat, einmal im Monat am Treffen der Ortsgruppe teilzunehmen und sich dort gemeinsam mit anderen aktiv einzubringen.

Günstige Mitgliedsbeiträge, überdurchschnittliche Leistungen - fürchten Sie nicht, dass Ihr Modell gerade jene anlockt, die möglichst viel für sich rausziehen wollen?

Cornelia Wiethaler: Nein, denn jeder ist ja für den gemeinsamen Topf mitverantwortlich, jeder entscheidet immer mit. Außerdem hat der günstige Mitgliedsbeitrag seinen Preis, schließlich muss man auch die Arbeitszeit einrechnen, die jeder einbringt.

Könnte Solidago langfristig nicht ein Sammelbecken für Rentner und chronisch Kranke werden?

Reiner Neureuther-Wiethaler: Nein, das glaube ich nicht. Wenn uns der politisch-rechtliche Durchbruch gelingt, werden wir auf Dauer genügend Nachwuchs haben. Im Moment habe ich eher die Sorge, dass wir zu viele Menschen anlocken könnten, die von der Gesellschaft im Allgemeinen und einem von politisch-ökonomischen Verflechtungen geprägten Gesundheitssystem frustriert sind. Und für die Solidarität nur darin besteht, mit anderen, die ebenso negativ eingestellt sind, gegen etwas zu sein.

Eine Solidargemeinschaft lebt jedoch davon, dass die beteiligten Menschen für etwas und füreinander einstehen. Eine gesunde Mischung vorausgesetzt, können wir ein paar von den Negativen vertragen. Aber für Demagogen und Reichsideologen bleibt die Tür zu.

Ein Jahr nach seiner Gründung zählt Solidago 170 Mitglieder. Etwa jeden Monat, sagen Sie, kommt eine Ortsgruppe dazu. Würden Sie gern schneller wachsen?

Reiner Neureuther-Wiethaler: Nein. Wenn wir schlagartig 50 neue Gruppen integrieren müssten, würde das unseren ehrenamtlichen Rahmen sprengen. Meine Vision ist, dass wir im positiven Sinne ansteckend sind, dass wir jenen Menschen, die eine ähnliche Lebensauffassung haben wie wir, eine neue Perspektive bieten können.

Cornelia Wiethaler: Unser Modell macht vielen Menschen Mut, weil sie das Gefühl haben, dass sie das verstehen und handhaben können, dass sie nicht ausgeliefert sind, dass sie etwas zu sagen haben und gemeinsam mit anderen etwas gestalten können. Genau das brauchen wir doch in einer lebendigen Demokratie.

Lesen Sie dazu auch: Alternative zur Krankenkasse: Solidargemeinschaft für alle Fälle

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