Pflegegutachten

Große Änderungen stehen an

Der Pflegebedarf in Minuten ist immer noch Kriterium für die Eingruppierung in Pflegestufen. Das soll ab spätestens 2017 anders sein. Die "Ärzte Zeitung" hat MDK-Pflegegutachterin Ulrike Kissels in Mülheim an der Ruhr bei ihrer Arbeit begleitet.

Von Anja Krüger Veröffentlicht:
Bitte die Hand heben! Die pflegebedürftige Elfriede Müller (l.) und MDK-Gutachterin Ulrike Kissels.

Bitte die Hand heben! Die pflegebedürftige Elfriede Müller (l.) und MDK-Gutachterin Ulrike Kissels.

© Anja Krüger

MÜHLHEIM AN DER RUHR. Die alte Dame mag nicht mehr. "Ich möchte meine Ruhe haben", sagt Elfriede Müller (Name geändert, die Red.). Dabei ist Ulrike Kissels vielleicht gerade zehn Minuten im Zimmer der 86-Jährigen. "Ich störe Sie auch nicht mehr lange", sagt sie freundlich.

Die Gutachterin des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) in Nordrhein weiß, dass Elfriede Müller am liebsten ihre Ruhe hat und nur noch ungern unter Menschen ist.

Bevor sie auf die Station "Ruhrtal" des Caritas-Seniorenzentrums Marienhof in Mülheim an der Ruhr gekommen ist, hat sie sich umfassend über den Zustand der Seniorin informiert.

Seit Elfriede Müller vor einigen Wochen im Krankenhaus war, hat sie stark abgebaut. Vieles kann die gebürtige Ostpreußin jetzt nicht mehr alleine, ihr Bedarf an Hilfe ist deutlich gestiegen.

Ulrike Kissels prüft an diesem Vormittag, ob für Elfriede Müller die Eingruppierung in die Pflegestufe II in Frage kommt, bislang war sie in der Pflegestufe I. Ulrike Kissels muss dazu erfassen, wie groß der Pflegebedarf der Seniorin gemessen in Minuten ist.

Das soll sich in Zukunft ändern: Denn künftig soll es einen neuen, wie es im besten Bürokratendeutsch heißt, "Pflegebedürftigkeitsbegriff" geben.

Er orientiert sich an der noch vorhandenen Selbstständigkeit des Versicherten und nicht mehr am zeitlichen Aufwand, den die Pflege aufgrund seiner meist körperlichen Beeinträchtigungen beansprucht. Das neue Begutachtungsverfahren soll bis 2017 eingeführt werden.

Neues Verfahren wird getestet

"Damit wird es besser möglich sein, die Situation von Versicherten mit einer Demenz oder einer psychischen Erkrankung zu erfassen", erklärt Ulrike Kissels.

Die Teamleiterin der Pflegekräfte im Beratungs- und Begutachtungszentrum Mönchengladbach des MDK Nordrhein gehört zu den Gutachtern, die das neue Verfahren getestet haben.

Die Verantwortung für die Studie liegt bei der Hochschule für Gesundheit in Bochum. Ergebnisse sollen bis Ende des Jahres vorliegen.

Dass die alte Frau nur schwer zu Aktivitäten mit anderen zu bewegen ist, hat Ulrike Kissels im Vorgespräch von Pflegerin Kerstin Elvert erfahren.

Die Gutachterin hat nach Krankheiten, dem behandelnden Hausarzt sowie nach Fachärzten gefragt und ausgiebig in der Pflegedokumentation nachvollzogen, welche Medikamente Elfriede Müller bekommt.

Ärzte haben eine Depression bei der Patientin diagnostiziert. "War etwas Besonderes in den vergangenen vier Jahren?", hat Ulrike Kissels gefragt. "Nein", hat Kerstin Elvert gesagt. "Aber sie hat kontinuierlich abgebaut."

Elfriede Müller ist seit 2009 im Caritas-Altenzentrum. Sie lebte alleine in ihrer Wohnung in Mülheim, bis sie einen Schlaganfall erlitt. Ihre Schwester wohnt ebenfalls im Caritas-Zentrum Marienhof, im Bereich "Dolce Vita".

Die beiden sehen sich regelmäßig, doch Elfriede Müller hat immer weniger Lust auf soziale Kontakte.

Im September ist sie gestürzt und hat sich eine Schulterfraktur zugezogen. Mitte Oktober musste sie ins Krankenhaus, weil ihr Gallensteine operativ entfernt werden mussten. Seitdem geht es bergab.

Den Rollator benutzt sie nicht mehr, sie wird im Rollstuhl gefahren. "Wenn es nach ihr ginge, würde sie den ganzen Tag im Bett liegen", berichtet Pflegerin Elvert.

Betreuungsleistungen wegen einer Demenz bekommt die Seniorin nicht. Aber die Mitarbeiterinnen in der Einrichtung erwägen, das auf den Weg zu bringen.

Oft traurige Geschichten

Auch als Ulrike Kissels die alte Frau in ihrem Zimmer aufsucht, liegt sie im Bett. An der Wand hängt ein weißer Zettel. "Gedächtnistraining Dienstag 10.30 Uhr", steht darauf.

Die Gutachterin stellt sich vor und gibt der alten Dame die Hand. "Wie geht es Ihnen?", fragt sie.

Elfriede Müller will nicht klagen. Aber sie sieht unglücklich aus. "Das ist nicht wie zu Hause, oder?", fragt Ulrike Kissels mitfühlend. Elfriede Müller schaut auf. "Ich bin ja aus Ostpreußen", sagt sie. "Ich bin ja schon mal geflüchtet." Ulrike Kissels nickt.

Sie hat lange in der Pflege gearbeitet. Oft erzählen ihr Versicherte bei der Begutachtung aus ihrem Leben, oft sind es traurige Geschichten. Elfriede Müller glaubt, dass sie erst seit 2013 im Heim lebt. "Haben Sie schon zu Mittag gegessen?", will Ulrike Kissels wissen.

Ja, sagt die Seniorin. "Was gab es zum Mittagessen?", fragt die Gutachterin. "Fragen Sie mich was anderes", sagt die alte Dame. Sie will ihre Ruhe haben, gibt sie unmissverständlich zu verstehen.

"Die Versicherten sind oft in ihrer Konzentration limitiert", berichtet Ulrike Kissels später.

Viele sind aufgeregt, wenn die Gutachterin kommt. Das zehrt an ihren Kräften. Doch so schnell, wie sie es gerne hätte, kann die Gutachterin die Seniorin nicht in Ruhe lassen. Denn Kissels muss mit eigenen Augen sehen, was Elfriede Müller noch kann und was nicht.

Dazu muss die alte Dame angezogen und in den Rollstuhl gesetzt werden. Ulrike Kissels verlässt den Raum, während Elfriede Müller angezogen wird. "Es ist ganz wichtig, dass wir den Versicherten Respekt entgegenbringen", sagt sie.

Um die Seniorin nicht in ihrer Würde zu verletzen, stellt sie bestimmte Fragen nicht in ihrer Gegenwart, etwa über Inkontinenz. "Danach würde ich nicht in Anwesenheit der Versicherten fragen", sagt sie. "Das wäre demütigend."

Mittlerweile ist Frau Müller angezogen und sitzt im Rollstuhl. Die Gutachterin geht ins Zimmer zurück und vor der Seniorin leicht in die Hocke. Sie spricht auf Augenhöhe. "Können Sie Ihren rechten Arm heben?", fragt sie und hebt zur Aufmunterung selbst einen Arm.

Die alte Dame hebt ihren rechten Arm. Ihr rechtes Bein dagegen kann sie kaum bewegen. Nach einigen Übungen wird sie unwirsch. Jetzt mag sie wirklich nicht mehr. Ulrike Kissels hat Verständnis.

Sie begleitet die Seniorin in den Gemeinschaftsraum, in dem die anderen Bewohner beim Mittagessen sitzen. Werden die Speisen mundgerecht zu Recht gestellt, kann sie alleine essen. "Bis auf die Nahrungsaufnahme ist sie überall auf personelle Hilfe angewiesen", sagt Ulrike Kissels.

Drei Minuten fürs Duschen?

Die Gutachterin wird die Pflegestufe II empfehlen. Heute muss sie dazu genau erfassen, wie viel Zeit die Pflegekräfte für die Versorgung von Elfriede Müller am Tag brauchen: Für die Körperpflege einschließlich vollständiger Hilfe bei Körperausscheidungen 106 Minuten, 14 Minuten für die Hilfe beim Essen und 46 Minuten für Transfers, Anziehen und Betten.

Voraussetzung für die Pflegestufe II ist, dass mindestens 120 Minuten in diesen drei Bereichen der Grundpflege zusammen kommen. Hinzu kommen Zeiten für hauswirtschaftliche Tätigkeiten wie einkaufen oder kochen.

Hier setzt Ulrike Kissels 60 Minuten an, so dass die erforderliche Gesamtzeit von 180 Minuten erreicht ist.

In die Zeiten fließen Mittelwerte ein, etwa drei Minuten fürs Duschen am Tag - auch wenn nicht täglich geduscht wird. "Wenn Angehörige hören: drei Minuten fürs Duschen pro Tag, schütteln sie mit dem Kopf", berichtet Pflegerin Kerstin Elvert.

Solche Zahlen sind zum Symbol geworden für Pflege mit der Stoppuhr in der Hand.

Dieses System hat ein gravierendes Manko: Es orientiert sich vor allem an körperlichen Einschränkungen. Mit dem jetzigen Instrumentarium können die Gutachter bestimmte Phänomene nicht erfassen, die in den Heimen Alltag sind, etwa die Betreuung von Patienten mit einer Demenz beim Essen.

"Die Versicherten können theoretisch selber essen, wenn Pflegekräfte die Speisen vor sie hinstellen", erklärt Ulrike Kissels. "Aber Demenzpatienten vergessen zu essen und nehmen keine Nahrung auf, wenn sich nicht jemand darum kümmert."

Löffel halten und Knöpfe schließen

In Zukunft sollen Gutachter auch diesen Unterstützungsbedarf dokumentieren können. Mit dem neuen System erfassen sie viele Details, zum Beispiel ob Versicherte Löffel halten, Nahrung aufnehmen oder Knöpfe schließen können.

Sie messen diese Fähigkeiten anhand von vier Kategorien: selbstständig, überwiegend selbstständig, überwiegend unselbstständig, unselbstständig.

"Künftig wird es darum gehen, den Grad der Selbstständigkeit der Versicherten möglichst genau zu erfassen", erklärt Ulrike Kissels.

Insgesamt soll es künftig acht Module geben, anhand derer die Gutachter die gewonnenen Informationen dokumentieren. Dabei werden Aspekte, die heute keine Rolle spielen, in die Gutachten einfließen.

Dazu gehören soziale Kontakte, kommunikative Fähigkeiten oder Gestaltung des Alltagslebens.

Differenzierte Begutachtung

In einem eigenen Modul "Umgang mit Krankheit/Therapie" geht es um ärztliche Verordnungen, erstmals wird damit die Behandlungspflege erfasst. "Das neue Begutachtungsverfahren ist sehr differenziert", erklärt Kissels.

Heute spielt es für die Feststellung der Pflegestufe keine Rolle, ob Frau Müller immer alle Personen erkennt - das ist allenfalls für die Betreuungsleistungen wichtig, die Patienten mit der Diagnose Demenz zustehen.

Künftig werden solche Punkte im Modul kognitive Fähigkeiten festgehalten, ebenso wie die Fragen, ob der Versicherte in seiner örtlichen oder zeitlichen Orientierung eingeschränkt ist.

Für jeden einzelnen erfassten Bereich vergeben die Gutachter Punkte. Sie werden unterschiedlich gewichtet und fließen in ein Gesamtergebnis. Statt drei Pflegestufen wird es fünf Pflegegrade geben - die erreichte Punktzahl entscheidet darüber, welchen Pflegegrad der Versicherte hat.

Noch steht nicht fest, welcher Versorgungsaufwand jeweils angenommen wird und wie viel Geld die Pflegeversicherung für die einzelnen Grade zahlt.

Dazu gibt es eine bundesweite Studie, die von der Uni Bremen betreut wird, in die 2000 Pflegebedürftige in 40 Einrichtungen einbezogen werden. Ergebnisse werden bis Ende Januar 2015 erwartet.

Noch in dieser Legislaturperiode will die Bundesregierung das System einführen.

Lesen Sie dazu auch: Neue Gutachtenregelung: Wie selbstständig ist der Patient tatsächlich?

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