Hiroshima und die Atombombe

Japans Bürde – Gesundheit der Bombenkinder

Seit Jahrzehnten berichten viele Hibakusha – so nennt Japan seine Atombombenopfer – regelmäßig vor Schülern und Interessierten aus dem In- und Ausland von dem Grauen, das sie und ihre Angehörigen erlebten. Ihre Erfahrungen und Meinungen unterscheiden sich stark.

Von Sonja Blaschke Veröffentlicht:
Kosei Mito ist ein „In-Utero-Überlebender“ der Atombombe. Seine Mutter war im vierten Monat mit ihm schwanger, als die Bombe am 6. August 1945 auf die japanische Stadt Hiroshima fiel. Hier zeigt er seinen Gesundheitsausweis.

Kosei Mito ist ein „In-Utero-Überlebender“ der Atombombe. Seine Mutter war im vierten Monat mit ihm schwanger, als die Bombe am 6. August 1945 auf die japanische Stadt Hiroshima fiel. Hier zeigt er seinen Gesundheitsausweis.

© Sonja Blaschke

Die Shima-Privatklinik in einem weiß gekachelten Bau von wenigen Stockwerken ist nur an einem Schild mit den Behandlungszeiten als solche zu erkennen. Sie sieht aus wie tausende andere Arztpraxen in Japan auch. Nichts deutet auf ihre lange und dramatische Geschichte hin.

Vor 73 Jahren stand an derselben Stelle im Zentrum der japanischen Stadt Hiroshima schon einmal eine Shima-Klinik, gegründet und geleitet von Dr. Kaoru Shima. Der Arzt half am 6. August 1945 in einer Ortschaft in der Nähe bei einer schwierigen Operation. Das rettete ihm das Leben. 80 Angestellte und Patienten, die am Morgen desselben Tages in der Klinik waren, starben auf der Stelle, als der amerikanische Bomber "Enola Gay" um 8.15 Uhr die erste Atombombe auf eine Stadt weltweit abwarf.

Als Shima am Abend in die Stadt zurückkehrte, soll er direkt mit der Behandlung der Überlebenden begonnen haben. Heute führt sein Enkel die Klinik, nun spezialisiert auf Innere Medizin, in der dritten Generation weiter.

Staat zahlt die Arztkosten

Bis zum Ende des Jahres 1945, schätzt man, kamen 140.000 Menschen ums Leben. Die Überlebenden der Atombombe nennt man in Japan Hibakusha. Die, die vom Staat offiziell als solche anerkannt wurden, bekamen einen entsprechenden Gesundheitsausweis. Sämtliche ärztliche Behandlungen sind für sie kostenfrei. Die Kosten, sogar für die Anreise zum Arzt, tragen der Staat und zu einem Teil die lokalen Gemeinden.

Auch Kosei Mito ist ein Hibakusha. Seine Mutter war im vierten Monat mit ihm schwanger, als die Bombe fiel. Er ist ein "In-Utero-Überlebender". Das steht auf einem Namensschild, das der 72-Jährige um den Hals trägt, während er aus dem Friedenspark hinaus in einige Seitenstraßen geht. Wenige Meter neben dem Eingang zur Privatklinik Shima weist Mito auf eine halbhohe unscheinbare Granittafel hin. Sie markiert das Hypozentrum. Ein Foto darauf zeigt, wie es damals kurz nach der Katastrophe aussah. Die Praxis wird im Text nicht erwähnt.

"Dafür habe ich kein Verständnis", sagt Mito sichtlich verärgert. "Die Shima-Praxis hat den Amerikanern doch nichts getan!" Aber auch seine Landleute selbst würden vieles, was damals passierte, verstecken, unter den Teppich kehren, auslassen.

Seit seiner Pensionierung vom Schuldienst ist der ehemalige Oberschullehrer täglich – im heißen Juli in Shorts und T-Shirt und braungebrannt – im Friedenspark unterwegs. Neben ihm steht sein Fahrrad, an das er Plakate über die Folgen der Atombombe geklebt hat. Er erklärt, wie die Überlebenden klassifiziert wurden: Die "Klasse eins"-Überlebenden haben die Katastrophe im Umkreis von vier Kilometern um das Hypozentrum erlebt – wie sein Vater; "Klasse zwei" wurde für Menschen vergeben, die das Gebiet zwei Kilometer um das Hypozentrum innerhalb der ersten zwei Wochen betraten – wie seine Mutter.

Einteilung der Bombenopfer in Klassen

Zur "Klasse drei" zählen Menschen, die außerhalb von Hiroshima waren, als die Bombe fiel, sich aber danach um die Überlebenden kümmerten, diese kremierten oder vom Fallout betroffen waren. Menschen wie Mito, die im Mutterleib waren, fallen in die vierte Kategorie. Daneben gibt es noch heute Menschen, denen der Gesundheitsausweis verweigert wird, und denen man abspricht, dass sie direkt betroffen waren, darunter Bewohner einiger Dörfer im Umkreis. Dort fiel nach der Katastrophe schwarzer verseuchter Regen, Krebsfälle häuften sich.

70.000 Personen aus 170 Ländern habe er in den vergangenen zwölf Jahren in Hiroshima herumgeführt, sagt Mito stolz. Dabei zeigt er, was bei offiziellen Führungen außen vor bleibt, darunter einen eingravierten Kreis von zehn Zentimetern Durchmesser an einem Brückenpfeiler. Dort hätten die Amerikaner die Strahlung gemessen. Er lässt seine Zuhörer hinter einem Parkplatz eingepferchte Grabsteine berühren. Oben ist der Stein ganz weich, "von der Bombe, 3000 Grad", unten rau, so wie er ursprünglich war.

Mito will zu Diskussionen anregen und tut das für einen Japaner ungewöhnlich direkt. "Die Atombombe war Völkermord, ein Experiment der USA. Sie wollten für eine Konfrontation mit den Sowjets bereit sein", sagt er und beklagt die Unwissenheit seiner Landsleute. Die Schüler würden gerade das Datum lernen. "Wenn Leute aus Hiroshima ins Ausland gehen, und darauf angesprochen werden, haben sie keine Ahnung!"

Die Amerikaner hätten das "Experiment" auch noch danach weitergeführt. Mito führt als Beleg die Gründung der Atomic Bomb Casualty Commission (ABCC) 1946 an, die von US-Präsident Harry S. Truman initiiert wurde und bis 1975 aktiv war, um die Spätfolgen der Strahlung zu registrieren. Dabei ging es nicht um die medizinische Betreuung, sondern schlicht um wissenschaftliche Forschung. Mito hält eine Mappe mit Texten auf Japanisch und Englisch und Fotos hoch. Schüler hätten sich auf dem Schulhof ausziehen müssen und seien fotografiert wurden. Das habe gerade die, die sichtbare Wunden von der Bombe hatten und Diskriminierung fürchteten, noch einmal traumatisiert, sagt Mito.

Hässliche Wahrheit verschwiegen?

Der kämpferische Senior beklagt, dass das Friedensmuseum in Hiroshima, das jährlich über 1,5 Millionen Menschen aus aller Welt besuchen, die hässliche Wahrheit nicht zeigen wolle. So seien zum Beispiel Bilder von missgebildeten Babys, die nach der Atombombe auf die Welt kamen und konserviert wurden, sowie Puppen von Opfern, von deren Gliedmaßen die Haut in Fetzen herabhängt, entfernt worden. Ein Kurator habe ihm gesagt: "Die Aufgabe des Museums ist es nicht, ein Gefühl für das Ausmaß des Horrors zu verbreiten." Mito schüttelt den Kopf. "Das ist doch unglaublich!"

Seine Familie hat Glück gehabt

Mitos Mutter ist heute stolze 100 Jahre alt. Auch sein Vater sei mit 93 Jahren alt geworden. Traumatisiert habe dieser über die Bombe nie mehr ein Wort verloren. Gesundheitlich kam Mitos Familie trotzdem glimpflich davon – er selbst eingeschlossen. Das war nicht bei allen "In-Utero-Überlebenden" so. Laut einer Studie der ABCC fand man zwar keine weitverbreiteten genetischen Schäden, aber dennoch Beweise für ein verstärktes Auftreten von Mikrozephalie und eine verzögerte mentale Entwicklung bei betroffenen Kindern.

Ganz anders war es um die gesundheitliche Verfassung von Setsuo Uchino aus Nagasaki und dessen Familienmitglieder bestellt. Dort warfen die Amerikaner am 9. August um 11.02 Uhr die weltweit zweite Atombombe auf eine Stadt ab. Viele von Uchinos Familienmitgliedern überlebten zwar 1,8 Kilometer vom Hypozentrum entfernt, aber waren oft krank und starben jung, die meisten an Krebs. Der jetzt 74-Jährige war damals erst ein Jahr und neun Monate alt. Seine Familie erzählte ihm später von verkohlten Leichen, Menschen ohne Kopf, solche, bei denen die Druckwelle die Eingeweide oder die Augen aus dem Körper gedrückt hatte . . .

Beinahe wäre er selbst längst nicht mehr auf der Welt. Wasser und Lebensmittel waren so knapp, dass seine Mutter sich mit ihm und zwei Geschwistern von einem Berg in die Tiefe stürzte. Ein Bambushain federte den Aufprall ab, sie überlebten. Das habe seine Mutter als Zeichen genommen, dass sie weiterleben sollten. Eine Woche später fand der schwerverletzte Vater seine Familie wieder; Maden nisteten in seinen verbrannten Armen; die Genesung habe ein Jahr gedauert.

Plötzlich gab es mehr Leukämie-Erkrankungen

Einige Jahre später hätten sich plötzlich in seinem Umfeld Leukämie-Fälle gehäuft, erinnert sich Uchino. Auch sein bester Freund Makoto erkrankte. "Ich habe viel geweint, weil er so schwach war", so der weißbärtige Senior. Es sollte nicht der letzte Trauerfall bleiben: Bei seiner Schwester fand man einen großen Polypen im Darm, sie starb mit 34. Seine Mutter schied mit 54 Jahren aus dem Leben, nachdem sie vorher wegen schwerer Tuberkulose sehr geschwächt war. "Ich fühlte mich so hilflos, hatte das Gefühl, dass es keinen Gott gibt."

Selbst zwei Brüder, die nach dem Krieg auf die Welt kamen, starben mit 59 und 64 Jahren – an Krebs. Uchino, der im Luftschutzkeller schlief, als die Bombe fiel, verlor als Kind zeitweilig sein Gehör, litt an Nasenbluten und erkrankte zweimal an Pneumothorax. Außerdem überlebte er Prostatakrebs.

Nicht nur in seiner Erzählweise – Uchino spricht ernst und verhalten – auch in der Frage nach der Schuld unterscheidet er sich von dem lebhaften Mito, der kein Blatt vor den Mund nimmt. "Das ist eine schwierige Frage" sagt Uchino und lächelt verlegen. "Ich hege keinen Groll gegen die Amerikaner, das war die Entscheidung von einigen wenigen Leuten an der Spitze, und auch keine gegen die japanische Führung."

Bei allen Unterschieden sind sich die Männer einig: Sie wollen eine Welt frei von Atomwaffen, aber auch frei von Atomkraft schaffen. Im Hinblick auf die nuklearen Ambitionen des Nachbarn Nordkorea appellieren sie an die Zusammenarbeit in Asien. "Durch die Atombomben wurde so viel Leid verursacht – physisch und mental", sagt Uchino. "Ich will eine friedliche Welt schaffen."

"Eine Welt ohne Atomwaffen ist ein Ziel, das weltweit geteilt wird", sagte auch der Bürgermeister von Nagasaki, Tomihisa Taue, der "Ärzte Zeitung". "Aber es gibt verschiedene Herangehensweisen, und es braucht eine klare, solide Vision und einen politischen Willen dazu". Dieser Wille sei bei den Gipfeltreffen zwischen Nord- und Südkorea sowie Nordkorea und Amerika sichtbar geworden. "Ich hoffe, dass der aktuelle Schwung nicht verloren geht", fügt Taue hinzu.

Nukleare Abrüstung kein Thema für Japans Regierung

Seine Stadt schlägt eine atomwaffenfreie Zone in Nordostasien (Northeast Asia Nuclear Free Weapon Zone) vor. Das Konzept wurde vom Forschungszentrum für die Abschaffung von Atomwaffen (Research Center for Nuclear Weapons Abolition, RECNA) der Universität Nagasaki entwickelt. Nord- und Südkorea und Japan würden dann auf Atomwaffen klar verzichten. Drei Staaten, die diese bereits besitzen – Amerika, Russland und China – würden negative Sicherheitszusagen unter einem bindenden Vertrag geben.

Die Regierung in Tokio sieht das anders: Diese setzt weiter auf den Schutz unter dem nuklearen Schirm des amerikanischen Partners und auf Aufrüstung. Wie Premierminister Shinzo Abe kürzlich noch einmal betonte, sei seine Regierung nicht bereit, einen internationalen Vertrag zum Bann von Atomwaffen zu unterzeichnen.

"Wir verstehen, dass wir als Stadt nicht die Macht haben, die Landespolitik zu beeinflussen", sagt Hirotaka Matsushima vom International Peace Promotion Department der Stadt Hiroshima. "Aber als erste Stadt, die die Atombombe erlebt hat, nehmen wir einen gewissen Einfluss." In Hiroshima wie Nagasaki setzt man stark auf Friedenserziehung. Beide Städte sind aktiv im Rahmen der "Mayors For Peace"-Friedensinitiative, die weltweit über 7000 Mitglieder hat und der in Japan 99 Prozent aller Bürgermeister angehören.

Lesen Sie dazu auch: Überlebende der Atombomben: Erhöhte Krebsrate bei Hibakusha erkennbar

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