Atombombenabwurf über Japan

Vor allem Kinder litten an nuklearen Folgen

Es sind die Kleinsten, die am empfindlichsten auf Radioaktivität reagieren. Bis zu 100-fach erhöht war die Leukämierate unter den jüngsten Atombomben-Überlebenden in Japan. 70 Jahre später gibt es aber auch gute Nachrichten.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Im August vor 70 Jahren explodierten über den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki Atombomben.

Im August vor 70 Jahren explodierten über den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki Atombomben.

© picture-alliance

HIROSHIMA/NAGASAKI. Schätzungsweise 210.000 Menschen starben vor 70 Jahren unmittelbar an den Folgen der beiden Atombombenexplosionen am 6. und 9. August 1945 über den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki. Wie viele in den folgenden Jahren an den Spätfolgen des ersten Kernwaffeneinsatzes umkamen, ist nach wie vor umstritten.

Hinweise lassen sich am ehesten von der Life Span Study (LSS) ableiten, die fünf Jahre nach den Bombenabwürfen ins Leben gerufen wurde. An dieser großen, bis heute andauernden Kohortenstudie beteiligten sich rund 94.000 Überlebende, die sich zum Zeitpunkt der Detonation in einem Radius von 10 Kilometer um das Explosionszentrum befanden. Zudem nahmen 26.000 Personen teil, die sich während der Explosionen in keiner der beiden Städte aufhielten.

Für die meisten von ihnen (92 Prozent) konnte die unmittelbar absorbierte Strahlendosis berechnet werden. Diese hing unter anderem davon ab, ob sie sich während der Explosion in einem schützenden Gebäude oder draußen befanden, berichten Onkologen um Professor Kenji Kamiya von der Universität in Hiroshima (Lancet 2015; 386:469-478).

So wurde im Freien eine Strahlendosis von 7 bis 10 Gray (Gy) in einem Kilometer Entfernung vom Explosionsort erreicht, in 2,5 Kilometer Entfernung lag die Dosis nur noch bei 13 mGy (Hiroshima) und 23 mGy (Nagasaki). Bei Strahlendosen ab 6 Gy bestehen kaum Überlebenschancen, eine Strahlenkrankheit mit Übelkeit, Erbrechen, Müdigkeit und Durchfall ist bei einer Ganzkörperbestrahlung ab etwa 1 Gy zu erwarten.

Rund 2400 der Teilnehmer (2,8 Prozent) waren Dosen von über 1 Gy ausgesetzt, bei den allermeisten (79 Prozent) lag die Dosis jedoch unter 100 mGy, bei 55 Prozent sogar unter 5 mGy. Die Studienteilnehmer wurden im Laufe eines Gesundheitsprogramms für Atombombenopfer regelmäßig untersucht, im Vergleich zur nichtexponierten Kontrollgruppe ließen sich auf diese Weise erhöhte Tumorrisiken ermitteln.

Auffallend hohe Leukämieraten

Atombomben über Hiroshima und Nagasaki

Am 6. August 1945 explodierte die nach heutigen Maßstäben eher kleine Uranbombe "Little Boy" 600 Meter über der Stadt Hiroshima. Sie setze die Energie von 13.000 Tonnen TNT-Sprengstoff frei. Dabei starben etwa 140.000 Menschen sofort oder in den Tagen danach an Verbrennungen, Strahlenschäden und den Folgen der Druckwelle.

74.000 unmittelbare Todesopfer gab es nach Schätzungen bei dem Abwurf von "Fat Man" drei Tage später über Nagasaki. Die mit 22 Kilotonnen doppelt so starke Plutoniumbombe tötete deutlich weniger Menschen, weil die Piloten ihr Ziel um etwa zwei Kilometer verfehlten und die umliegenden Berge die Auswirkungen dämpften.

Ein Großteil der Opfer wurde durch die enorme Hitze und die Druckwelle getötet: Temperaturen von über 6000 Grad ließen Menschen verdampfen, Windgeschwindigkeiten von mehr als 500 Stundenkilometer pulverisierten sämtliche Gebäude im Zentrum. Von 76.000 Häusern in Hiroshima zerstörte oder beschädigte die Bombe 70.000.

Nach Hiroshima und Nagasaki wurden nie wieder Kernwaffen gegen Menschen eingesetzt, im Kalten Krieg bauten die Supermächte aber ein unvorstellbares nukleares Zerstörungspotenzial auf. Einige der getesteten thermonuklearen Waffen erreichten die 1000- bis 4000-fache Sprengkraft der Hiroshima-Bombe.

Für militärische Einsätze werden jedoch oft kleinere, aber multiple Sprengsätze in Interkontinentalraketen bereitgehalten. So konnte die bis 2005 stationierte US-amerikanische MX-Rakete zehn unabhängig steuerbare Sprengköpfe transportieren, jeder mit der Energie von 20 Hiroshima-Bomben.

Derzeit lagern in den Waffenarsenalen noch etwa 16.000 Nuklearwaffen. Weltweit verfügen neun Länder über Atombomben.

(Quelle: Federation of American Scientists, Status of World Nuclear Forces)

Am auffallendsten waren in den ersten Jahren nach den Explosionen steigende Leukämieraten. Solche Tumoren wurden bereits drei Jahre nach den Abwürfen verstärkt bei denjenigen festgestellt, die sich sehr nahe am Ground Zero befanden.

Die Leukämiewelle erreichte ihren Höhepunkt etwa sechs bis acht Jahre nach den Atombomben-Zündungen und betraf besonders die jungen Bewohner: Pro 1 Gy berechneten die Forscher ein etwa 70-fach erhöhtes Erkrankungsrisiko für Kinder, die im Alter von etwa zehn Jahren die Katastrophe erlebt hatten.

Eine Dosis von 1,5 Gy würde danach das Leukämierisiko um mehr als das 100-Fache steigern. Überlebten Kinder die ersten Jahre ohne Leukämie, sank das Risiko wieder deutlich, zum Teil bis auf Normalwerte. Bei Erwachsenen fanden die Forscher pro 1 Gy nur ein verdoppeltes Leukämierisiko, dieses blieb aber lebenslang bestehen.

Vermehrt Blasenkrebs

Eine Häufung von soliden Tumoren ließ sich bei den Atombombenopfern etwa zehn Jahre nach der Strahlenexposition feststellen. Auch hier stieg die Rate linear mit der Strahlendosis an.

Pro 1 Gy berechneten die japanischen Forscher ein 40-50 Prozent erhöhtes Risiko, innerhalb von 40 Jahren an einem soliden Tumor zu erkranken und zu sterben - auf die Entwicklung solcher Tumoren hat die Strahlenexposition also einen deutlich geringen Einfluss als auf Leukämien.

Kinder erkrankten wiederum deutlich häufiger als Erwachsene - für sie ermittelten die Forscher ein 50-120 Prozenterhöhtes Risiko pro 1 Gy Strahlenbelastung.

Am stärksten scheint die strahlungsbezogene Risikoerhöhung für Blasentumoren zu sein (plus 120 Prozent pro Gy) gefolgt von Wucherungen in Brust, Lunge, Gehirn, Eierstöcken, Schilddrüse, Magen-Darmtrakt und Haut. Kein signifikant erhöhtes Risiko ließ sich hingegen für Tumoren der Prostata, Bauchspeicheldrüse, Nieren oder des Uterus nachweisen.

Risiken unter 100 Millisievert unklar

Insgesamt stellten die Forscher der Studie zwar einen linearen Effekt der Strahlendosis fest - mit jeder Verdoppelung der Strahlendosis verdoppelt sich auch das Krebsrisiko. Ob das jedoch auch für Dosen unter 100 mGy gilt, sei unsicher, da hier statistische Fluktuationen und andere Krebsrisikofaktoren eine genau Berechnung erschweren, schreiben Kamiya und Mitarbeiter.

Solche Unsicherheiten, die immerhin 80 Prozent der überlebenden Atombombenopfer in der Studie betreffen, waren vor Kurzem auch von US-Forschen kritisiert worden. Die beiden Radioonkologen Dr. Jeffry Siegel und Dr. James Welsh von der Universität in Chicago gehen davon aus, dass es einen Grenzwert gibt, ab dem die Strahlenexposition ein erhöhtes Tumorrisiko nach sich zieht.

Diesen sehen sie nicht zuletzt aufgrund der LSS-Daten bei 100 bis 200 mGy (bezogen auf Gammastrahlung) oder 100 bis 200 Millisievert (Äquivalenzdosis). Danach hätten die allermeisten Überlebenden von der einstigen nuklearen Bestrahlung nichts zu befürchten.

Mit einem anderen Problem sehen sich die Bewohner um havarierte Kernkraftwerke konfrontiert. Problematisch ist hier weniger die externe Strahlenbelastung durch Gammastrahlung oder Neutronen, wie sie während einer Atomexplosion auftritt, vielmehr bedrohen eingeatmete oder über die Nahrung aufgenommene Radionuklide den Körper.

In Regionen, die nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl stark belastet wurden, ließ sich eine rund dreifach erhöhte Inzidenz von Schilddrüsentumoren bei Kindern nachweisen, vor allem bei solchen, die zum Zeitpunkt des GAU unter fünf Jahre alt waren. Dagegen konnte bei Erwachsenen keine erhöhte Inzidenz beobachtet werden, berichten die japanischen Forscher.

Strahlenschäden nicht vererbbar

Nach den Atombombenexplosionen in Japan befürchteten viele Menschen, die Strahlenschäden würden auf die Nachkommen vererbt. In diesem Punkt können die Daten aus Japan beruhigen. Dort haben Ärzte auch 77.000 Kinder, die von Überlebenden nach den Explosionen gezeugt wurden, regelmäßig untersucht.

Dabei gab es weder ein erhöhtes Risiko für Fehlgeburten, Missbildungen oder Chromosomenaberrationen, noch ließ sich bei den Nachkommen bislang ein erhöhtes Krebsrisiko nachweisen. Da diese Kohorte noch recht jung ist, müsse man aber noch einige Jahrzehnte warten, um das Krebsrisiko besser einschätzen zu können, schreiben Kamiya und Mitarbeiter.

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