Chaos Notaufnahme?

Jeder zweite Patient kein echter Notfall

Viele Notfallaufnahmen an Kliniken ächtzen unter steigendem Zulauf. Gut jeder zweite unter den Patienten gehört aber ambulant versorgt. Für Entlastung könnte vor allem eine Sache sorgen.

Von Susanne Werner Veröffentlicht:
Hier geht es zur Notaufnahme: Diesen Weg schlagen viele Patienten ein, denen auch ambulant geholfen werden könnte.

Hier geht es zur Notaufnahme: Diesen Weg schlagen viele Patienten ein, denen auch ambulant geholfen werden könnte.

© schulzfoto/Fotolia.com

BERLIN. Laut Bundesärztekammer verzeichnen niedergelassene Arztpraxen jedes Jahr durchschnittlich rund 550 Millionen vertragsärztliche Behandlungsfälle. Im Vergleich dazu erscheinen jene geschätzten 20 Millionen Menschen wenig, die pro Jahr in Notfallaufnahmen an Kliniken behandelt werden. Was Notfall-Mediziner jedoch Sorgen bereitet, ist der Ausblick.

Um durchschnittlich fünf Prozent sind die Patientenzahlen in den Notfallaufnahmen an den Kliniken in den letzten Jahren gestiegen. Setzt sich dieser Trend fort, kann es eine effiziente Versorgung in Zukunft deutlich beeinträchtigen.

Zwar sorgen die Notfall-Einrichtungen mit einem Triage-System dafür, die Dringlichkeit der Behandlung schnell einzuschätzen und entsprechend abzuarbeiten. Dennoch binden die hohen Patientenzahlen schon jetzt Ressourcen, die eingelieferte Akutkranke und Schwerverletzte benötigen.

Für etwa jeden zweiten Patienten reiche eine ambulante Versorgung völlig aus, schätzt die Deutsche Gesellschaft für interdisziplinäre Notfall-Medizin.

"Nehmen die unechten Notfälle überhand, besteht die Gefahr, dass sich der Behandlungsbeginn bei den echten Notfällen verzögert", warnt Professor Michael Wenzl vom Verband der leitenden Orthopäden und Unfallchirurgen. Wie also lassen sich die Patienten besser steuern und verlässlich versorgen?

Vielerorts sind die Zeiten vorbei, als Namen und Rufnummern der Bereitschaftsärzte in der Tageszeitung veröffentlicht wurden. Dass es seit 2012 eine bundesweit einheitliche Rufnummer für den ärztlichen Bereitschaftsdienst gibt, scheint - trotz Flyer, Website und Kampagne - bei vielen Patienten nicht angekommen zu sein.

Gut jeder zweite Patient gab in einer Berliner Befragung an, keine Alternative zu einer Notfallbehandlung im Krankenhaus zu kennen. Knapp 60 Prozent erklärten ein ambulantes Angebot der Ärzte nutzen zu wollen, falls es so etwas gäbe.

Patienten wollen Wartezeiten vermeiden

Vielleicht hat die Zentralisierung in der Organisation des ärztlichen Bereitschaftsdienstes aber auch dazu geführt, dass die Patienten aus dem direkten Kontakt zum niedergelassenen Arzt erst recht ausgestiegen sind.

Während sich früher der diensthabende Arzt leibhaftig am Telefon meldete, landet der Anrufer heute in einer Leitstelle. Mancher Patient - gerade wenn er sich um seine Gesundheit sorgt - dürfte diese Ansprache als zu unpersönlich empfinden.

Schließlich hatten 63 Prozent der Patienten, die die zwei Notfallaufnahmen in Berlin von sich aus aufsuchten und dort befragt worden waren, erst gar nicht versucht, zuvor einen niedergelassenen Arzt zu kontaktieren.

Und gut ein Drittel derjenigen, die außerhalb der regulären Öffnungszeiten von Arztpraxen in Kliniken vorstellig wurden, wollten damit lange Wartezeiten vermeiden. Dass die Berliner in Sachen Notfallbehandlung nicht Bescheid wüssten, kann man bei der KV Berlin nicht glauben.

"Der ärztliche Bereitschaftsdienst ist weit bekannt", sagt Susanne Roßbach von der KV Berlin. Die Raten der Inanspruchnahme seien stetig gestiegen. Nahezu 200.000 Kontakte verzeichneten die niedergelassenen Ärzte im vorigen Jahr.

Das Aufsuchen des an den Krankenhäusern angesiedelten "Notfalldienst" erfolge, so Roßbach, zum einen aus Bequemlichkeit, zum anderen aus der Selbsteinschätzung der Patienten.

In der Tat glaubten nahezu 90 Prozent der in Berlin befragten Patienten, dringend behandlungsbedürftig zu sein. Gut die Hälfte wollte so schnell wie möglich untersucht werden, knapp 40 Prozent noch am selben Tag.

Wer mag angesichts dieser Unsicherheit schnell entscheiden, wer ein echter Notfall ist und wer nicht? Dringend nötig ist es daher, die Patienten intensiver in Gesundheitsfragen aufzuklären, umfassender zu informieren und wirklich jeden Patienten in das Versorgungssystem mitzunehmen.

Denn, wie gut die Patienten durch Notfallaufnahme und Bereitschaftsdienst gelotst werden, ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch ein Prüfstein für eine gute Versorgung.

Sektorenübergreifende Steuerung ist nötig

Die Gesundheitspolitik setzt indes auf die Portalpraxen, die die Kassenärzte an Kliniken einrichten und außerhalb der eigenen Praxiszeiten betreiben sollen.

Es ist sicherlich richtig, dass die Akteure in der Notfallbehandlung sektorenübergreifend zusammenrücken müssen.

Ob die Portalpraxen jedoch die Patientenströme zwischen Bereitschaftsdienst und Klinik besser steuern werden, bleibt abzuwarten.

Die Kassenärzte fürchten zu Recht, dass der Trend befördert wird und die Kliniken weitere Patienten anziehen, die ambulant bestens versorgt wären.

Ohne die Patienten aufzuklären, ihnen grundlegendes Gesundheitswissen zu vermitteln und am besten einen kundigen Hausarzt an die Seite zu stellen, wird das Konstrukt nicht funktionieren.

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Kommentare
Dr. Hartmut Ocker 29.01.201612:28 Uhr

Vorbild Großbritannien

Machen wir es wie in Großbritannien: Auf meine Nachfrage, ob mit grüner Triagekarte 4 oder mehr Stunden Wartezeit im A+E Department
nicht deutlich zu lang sind, entgegnete mir der Consultant der Notaufnahme, dass das beabsichtigt sei. Mindestens die Hälfte der Patienten geht in der Zeit: Einfach weil sie keine ernsthafte Erkrankung haben! Es braucht halt nicht jede Befindlichkeitsstörung eine ärztliche Behandlung.

Mit freundlichem Gruß
H. Ocker

Dr. Ludwig Krüger 29.01.201612:06 Uhr

Aufklärung der Patienten, denn wo auch immer: "Wir arbeiten gern für Sie"

Stimme völlig dem Vorschlag von Kollegen Schay zu. Parallel dazu entsprechende Aufklärung darüber, wohin Patienten sich womit wenden sollten.

Zitat: "und am besten einen kundigen Hausarzt an die Seite zu stellen"

Aber was, um Himmels Willen, ist ein kundiger Hausarzt ?
Demzufolge gibt es unkundige ?
Gibt es vielleicht auch mündige und unmündige ?

Mir fehlen die Worte...

Dr. Christoph Schay 29.01.201610:36 Uhr

Eigenbeteiligung

Zu Zeiten der 10 Euro Quartalsgebühr für die Krankenkassen sind die versicherten zunächst zum Primärarzt gegangen und nach Klärung der Dringlichkeit wurden weitere medizinische Massnahmen eingeleitet. In den Notfallpraxen mußten die Versicherten auch eine Eigenbeteiligung entrichten. Seitdem die Steuerungsgebühr nicht mehr zu entrichten ist, hat sich das Patientenverhalten negativ entwickelt.

Eine angemessene Gebühr von 20 € pro Konsultation in der Notfallversorgung der Kliniken wird sicherlich dazu beitragen, dass Patientinnen und Patienten mittels ihres Smartphone`s die nächste kassenärztliche Notfallpraxis aufsuchen und sich dort behandeln lassen. Dringliche Fälle, die einer weiteren Diagnostik oder einer stationären Therapie bedürfen werden dann, wie schon immer üblich über oder eingewiesen.Wer angibt, die Zugangswege oder Telefonnummern nicht zu kennen ist entweder nur bequem oder von jeglicher digitalen Information abgeschnitten. Letzteres ist eher unwahrscheinlich.

Die Politik bereit ein schäbiges Spiel indem sie versucht die Sektoren gegen einander auszuspielen.

Mit freundlichen Grüßen

C.Schay

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