„Sauber ausfinanzierte Reform“

Kabinett bringt Tarifpflicht in der Altenpflege auf den Weg

Geld der Pflegekassen nur noch bei Tarifbezahlung, Zuschläge bei den Eigenanteilen: Nach langem Streit segnet das Bundeskabinett die Pflegereform ab.

Von Von Thomas Hommel Veröffentlicht: | aktualisiert:
Pflegereform auf den letzten Metern der Wahlperiode: Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bei der Sitzung des Bundeskabinetts.

Pflegereform auf den letzten Metern der Wahlperiode: Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bei der Sitzung des Bundeskabinetts.

© Tobias Schwarz/dpa

Berlin. Beschäftigte in der Altenpflege sollen künftig verpflichtend nach Tarif bezahlt werden. Das Bundeskabinett gab am Mittwoch grünes Licht für die maßgeblich von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) initiierte Gesetzesänderung. Diese soll an das geplante Gesundheitsversorgung-Weiterentwicklungsgesetz (GVWG) drangehängt werden.

In der Pflege seien die Löhne zuletzt „überproportional“ gestiegen – zu viele Beschäftigte hätten aber nicht profitiert, sagte Spahn am Mittwoch vor Journalisten. Die Tarifpflicht könne dazu führen, dass Beschäftigte im Monat bis zu 300 Euro mehr verdienten. Profitieren könnten vor allem Beschäftigte in Ostdeutschland.

Arbeitsminister Heil erklärte, die Reform helfe 500.000 Altenpflegebeschäftigten, die bisher nicht nach Tarif bezahlt worden seien.

„Spirale nach oben“ in Gang gesetzt

Generell rechne er bei den Pflegelöhnen mit einer Spirale nach oben, sagte Spahn. „Pflegekräfte in Deutschland werden Jahr um Jahr besser verdienen – das ist die Situation, die wir durch dieses Gesetz geben.“ Dies erhöhe die Attraktivität des Berufs. Pflegekräfte säßen bei Löhnen inzwischen am „längeren Hebel“. Die Nachfrage der Krankenhäuser, Altenheime und Pflegedienste nach Personal sei riesig, das Angebot an Fachkräften eher gering. „Auf einem solchen Arbeitsmarkt steigen die Tariflöhne so oder so weiter.“

Die Lohnerhöhungen dürften aber nicht auf die Eigenanteile der Pflegebedürftigen und deren Angehörigen durchschlagen, sagte Spahn. Daher sollten Zuschüsse der Pflegekassen für Entlastung sorgen.

Die Gesamtkosten der Reform bezifferte Spahn auf drei Milliarden Euro im nächsten Jahr. Zur Gegenfinanzierung schieße der Bund erstmalig ab 2022 eine Milliarde Euro zur Pflegeversicherung bei. Über die geplante Erhöhung des Beitragssatzes für Kinderlose um 0,1 Prozentpunkte kämen 400 Millionen Euro hinzu. Die restlichen 1,6 Milliarden Euro seien im Zuge der regulären Dynamisierung der Pflegeleistungen ohnehin eingeplant und würden eingepreist. Damit sei die Reform „sauber ausfinanziert“, adressierte Spahn Richtung GKV-Spitzenverband. Der Kassenverband wies am Mittwoch erneut auf eine Finanzlücke von zwei Milliarden Euro in der Pflege schon im Jahr 2022 hin.

Details der am Mittwoch auf den Weg gebrachten Änderungen sind:

Bezahlung nach Tarif: Ab September 2022 sollen nur noch die Altenheime und Pflegedienste mit den Pflegekassen abrechnen dürfen, die nach Tarif, kirchenarbeitsrechtlichen Regelungen oder zumindest in Höhe eines Tarifvertrags entlohnen.

Volle Refinanzierung: Tariflöhne sollen voll refinanziert werden. Für nicht tarifgebundene Einrichtungen soll eine Refinanzierung der gezahlten Löhne bis zur Höhe von zehn Prozent über dem Durchschnitt regional geltender Tariflöhne garantiert sein.

Nachweispflichten: Um zu prüfen, ob die in den Pflegesatzvereinbarungen angegebenen Löhne tatsächlich bezahlt werden, erhalten Pflegekassen neue Nachweisrechte. So müssen ihnen die Pflegeeinrichtungen jährlich bis spätestens Ende September mitteilen, welche Tarifregelungen zum Tragen kommen.

Zuschüsse bei Eigenanteilen: Um die Heimbewohner bei den pflegebedingten Eigenanteilen zu entlasten, soll die Pflegeversicherung einen Zuschlag zahlen – hier hat die Koalition offenbar noch nachgebessert: So sollen Pflegebedürftige im ersten Jahr des Heimaufenthalts einen Zuschlag von fünf Prozent des Eigenanteils, im zweiten Jahr 25 Prozent, im dritten Jahr 45 Prozent und danach 70 Prozent erhalten. Ursprünglich sollte ein Zuschlag erst nach zwölf Monaten fließen. Das war auf Kritik gestoßen.

Laut Spahn werden Pflegebedürftige mithilfe des Zuschlags nach mehr als zwei Jahren Pflege im Schnitt um 410 Euro und nach mehr als drei Jahren um 638 Euro monatlich entlastet. In der ambulanten Pflege sollen die Leistungsbeträge um fünf Prozent steigen.

Heilkunde-Übertragung: Zudem sollen Pflegefachkräfte mehr Befugnisse bei der Auswahl von Hilfsmitteln bekommen. Auch sollen sie eigenständige Entscheidungen in der häuslichen Krankenpflege treffen – etwa in der Dekubitusversorgung.

„Schwarzer Tag für die private Altenpflege“

Die Gewerkschaft Verdi forderte am Mittwoch Nachbesserungen an der Reform. „Wir brauchen ein Gesetz, das wasserdicht ist gegen die absehbaren Versuche vor allem der kommerziellen Pflegeanbieter, Schutzwirkungen für die Beschäftigten zu umgehen“, sagte Sylvia Bühler vom Verdi-Bundesvorstand.

Der Anbieter-Verband bpa sprach von einem „schwarzen Tag für die private Altenpflege“. Die Bundesregierung gefährde die Existenz tausender Einrichtungen samt Arbeitsplätzen, sagte bpa-Präsident Bernd Meurer. Die geplante Tarifpflicht werde sich unmittelbar auf die Betreuung pflegebedürftiger Menschen auswirken, da die privaten Einrichtungen mehr als 50 Prozent der Versorgung sicherstellten.

Diakonie-Präsident Ulrich Lilie sagte, die Koalition gehe immerhin kleine Schritte in die richtige Richtung. Die große Pflegereform sei Aufgabe der nächsten Bundesregierung. Caritas-Präsident Peter Neher erklärte, die Regelung zu den Tariflöhnen weise in der jetzigen Fassung Schlupflöcher auf. „Es muss grundsätzlich in allen Regionen möglich sein, auch bundesweite Flächentarife anzuwenden“, forderte Neher.

Der Chef des AOK-Bundesverbands, Martin Litsch, erklärte, die beschlossenen Maßnahmen würden bei fehlender Gegenfinanzierung einen Ausgabenanstieg auslösen, der das Finanzierungsproblem in der Pflege bereits 2022 drastisch verschärfe.

„Nicht nichts, aber auch kaum mehr“

Harsche Kritik kam auch aus den Reihen der Opposition. Die Vorschläge für die Pflege seien ein Paradebeispiel für die Politik der Bundesregierung: „Nicht nichts, aber auch kaum mehr“, sagte die pflegepolitische Sprecherin der Linksfraktion Pia Zimmermann. Um den Personalmangel in der Altenpflege zu beheben, sei eine spürbare Erhöhung der Grundgehälter um etwa 500 Euro monatlich nötig – „sofort und dauerhaft, verlässlich und flächendeckend“.

Grünen-Pflegepolitikerin Kordula Schulz-Asche sagte, was die jetzige Bundesregierung als Änderungsanträge zu einem „Aller-Welt-Gesetz“ – dem GVWG – vorlege, sei keine Pflegereform und lasse „die Schuldenuhr bei den pflegebedürftigen Menschen immer schneller ticken“. Mit ihren Versäumnissen stelle die Koalition die künftige Bundesregierung vor eine horrende Herausforderung gleich zu Beginn der neuen Legislaturperiode, sagte Schulz-Asche.

Der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, betonte hingegen, die Koalition habe „echte Meilensteine“ für die Pflege gesetzt.

CDU-Gesundheitspolitiker Alexander Krauß schob den Ball ins Parlament weiter. Die Abgeordneten müssten nun aufs Tempo drücken, um die Reform unter Dach und Fach zu bringen. Dies soll voraussichtlich bis Ende Juni geschehen.

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