Morbi-RSA
Mehr Geld für Tote
Der Gesundheitsfonds klingt so einfach: Je nach Versicherten bekommen die Kassen mal mehr, mal weniger Geld. Doch der Teufel steckt im Detail - genauer: bei den Toten. Jetzt soll eine fehlerhafte Rechenformel geändert werden. Das sorgt für Ärger, es geht um Millionen Euro.
Veröffentlicht:BERLIN (nös). Ein altes Problem sorgt für eine neue Diskussion - weil es abgeschafft werden soll. Die Rede ist von sogenannten "unvollständigen Versicherten" im Gesundheitsfonds.
Unvollständig sind sie immer dann, wenn sie kein ganzes Jahr Mitglied in der GKV sind - etwa Neugeborene, Zuwanderer und Tote.
Diese Versicherten sind für den Gesundheitsfonds eine kleine Herausforderung, denn sie produzieren in diesem betreffenden Jahr nur anteilig Kosten. Und auch ihre Krankenkasse erhält nur für exakt diejenigen Tage Überweisungen aus dem Fonds, an denen der Versicherte auch versichert war.
Die Zu- und Abschläge wiederum, die aus dem morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) für die Versicherten - je nach Alter, Geschlecht und Krankheitsdiagnosen - gezahlt werden, errechnet das Bundesversicherungsamt (BVA) aus den Ausgaben für alle vergleichbaren Versicherten, Risikogruppen genannt.
An dieser Stelle wird das Problem deutlich: Denn diese Ausgaben werden über das gesamte Jahr berechnet.
Die Erfinder des Morbi-RSA haben deswegen einen international üblichen Rechenstandard eingeführt: die Annualisierung.
Ein Beispiel: Die Ausgaben, die in den restlichen Monaten bis zum Jahresende für ein Neugeborenes entstehen, das im Juli geboren ist, werden auf das Gesamtjahr hochgerechnet und dann wiederum durch 365 beziehungsweise 366 geteilt.
Somit ergeben sich die durchschnittlichen Tagesausgaben, die für die Errechnung der Zu- und Abschläge ein realistisches Zahlenmaterial liefern.
Bei Neugeborenen, Zu- und Abwanderern und Wechslern aus der PKV funktioniert das - bloß nicht bei Versicherten, die mitten im Jahr sterben.
Sterbende sind teuer
Und das sind nicht wenige. Im Jahr 2009 waren 762.450 GKV-Versicherte gestorben. Das waren gerade einmal 1,1 Prozent aller Versicherten, aber sie verursachten gut 14,3 Prozent aller Ausgaben in der GKV.
Eine schlichte Weisheit: Am Lebensende sind Versicherte am teuersten. Im Schnitt verursachte 2009 ein Gestorbener GKV-Ausgaben von 26.769 Euro, ein "Überlebender" hingegen nur 2062 Euro.
Das Problem der Annualisierung bei gestorbenen Versicherten: Bei ihnen werden die Ausgaben nicht auf das Jahr hochgerechnet, sondern direkt durch die Zahl der Tage im Jahr geteilt.
Und weil der Durchschnitt der Gestorbenen auf wundersame Weise auch ziemlich in der Jahresmitte stirbt, geht bei der Berechnung der Gesamtausgaben auch die Hälfte der tatsächlichen Ausgaben verloren - sie wird bei der Zuschlagserrechnung für Versicherte mit ähnlichen Risikomerkmalen schlicht unterschlagen.
Ein sehr vereinfachtes Rechenbeispiel demonstriert die Tragweite: Die aus den Durchschnittswerten errechneten Gesamtausgaben aller Gestorbenen aus dem Jahr 2009 schlägt in der GKV mit satten 20 Milliarden Euro (sic!) zu Buche.
Wenn alle der 762.450 Gestorbenen exakt in der Jahresmitte von uns gegangen wären, würden die Mathematiker des Fonds bei der Ausgabenberechnung schlagartig 10 Milliarden Euro unberücksichtigt lassen - weil sie die Ausgaben vorher nicht hochgerechnet hatten.
Millionen Euro falsch umverteilt?
Im BVA und auch im wissenschaftlichen Beirat weiß man um dieses Problem - seit Jahren wird darüber diskutiert. Auch die Krankenkassen haben die Rechnung gemacht und wollen die Formel korrigieren.
Experten gehen davon aus, dass auf diese Weise jedes Jahr mehrere hundert Millionen Euro nicht richtig zugewiesen werden. Denn was einer Risikogruppe aus den Durchschnittsausgaben nicht zugerechnet werden kann, fließt in die pauschale Umverteilung ein und kommt nicht den Betroffenen zugute.
Der wissenschaftliche Beirat des Gesundheitsfonds hatte für Gestorbene eine durschnittliche Deckungsquote von nur 29,1 Prozent errechnet. Alles oberhalb davon müssen die Kassen auf andere Weise kompensieren.
Und so entsteht ein Berg an Geldern, der vor allem den Kassen mit jungen und gesunden Versicherten zugutekommt und den Kassen mit den älteren und kränkeren Versicherten fehlt.
Der AOK-Bundesverband, die Deutsche BKK, die Knappschaft Bahn-See und die DAK - Kassen mit vergleichsweise hoher Morbidität - haben deswegen beim BVA angeregt, auch für Gestorbene eine Annualisierung einzuführen.
Gegen diesen Vorschlag haben naturgemäß jene Kassen Einwände, die eine eher gute Morbiditätsstruktur unter den Versicherten haben, darunter die Innungskrankenkassen, die meisten Betriebskrankenkassen und die Techniker Krankenkasse.
Aus ihrer Sicht würde eine Annualisierung "zu einer unsachgemäßen Verteilung eines fiktiven Behandlungsbedarfs in Millionenhöhe führen", heißt es in den 290-seitigen Erläuterungen des BVA zur Festlegung des Berechnungsverfahrens für 2013.
Klares Votum vom BVA
Der IKK-Verband geht sogar davon aus, dass mit dieser Änderung das gesamte Finanzsystem aus dem Gleichgewicht gebracht werden könnte. Verbandschef Jürgen Hohnl: "Die bisher schon benachteiligten Krankenkassen verlieren durch die neue RSA-Methodik weiter an Boden."
Seine Warnung liest sich vor dem Hintergrund, dass vor allem Kassen mit hoher Morbidität mehr Zuweisungen aus dem Fonds bekommen. Mit der Änderung der Berechnung würden sie noch mehr aus dem Fonds überwiesen bekommen, da bei ihnen - so zumindest die saloppe These - mehr gestorben wird.
Für die Kassen mit gesunden Versicherten ergäbe sich hingegen eine negative Umverteilung, sie würden zu den Verlierern gehören. Hohnl warnt deswegen vor einzelnen Veränderungen am Morbi-RSA. Er plädiert eher für grundlegende Reformen: "Dafür ist eine Debatte im Parlament erforderlich."
Dennoch, das BVA scheint sich festgelegt zu haben. Es plädiert eindeutig für eine Änderung der Berechnungsformel. Allerdings soll die Annualisierung künftig vollständig gestrichen werden.
Statt ihrer wollen die Mathematiker künftig mit Pro-Tag-Werten arbeiten. Sämtliche Werte "unvollständig Versicherter" würden dann nicht mehr hochgerechnet werden müssen - die Ausgaben werden in diesem Modell schlicht durch die Anzahl der versicherten Tage geteilt.
Auch aus dem Bundesgesundheitsministerium ist offenbar kein Gegenwind zu erwarten. Das Berechnungsmodell kann das BVA selbstständig festlegen - die Risikostrukturausgleichsverordnung gibt der Behörde den nötigen Rahmen.
Allerdings: Ein Rechtsrahmen lässt sich immer auch ändern.