Arbeitsplatz
Stress-Risiken werden oft nicht ernst genommen
Seit Ende 2013 sollen Arbeitnehmer am Arbeitsplatz vor psychischen Risiken geschützt werden. Doch bei der Umsetzung hapert es, bemängeln Experten.
Veröffentlicht:BERLIN. Um psychische Risiken am Arbeitsplatz zu erfassen und Arbeitnehmer davor zu schützen, wurde die "Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen" Ende 2013 in Deutschland ins Arbeitsschutzgesetz aufgenommen.
Doch bei der Umsetzung hapert es: Weder sind die Vorgaben an die Arbeitgeber für die Gefährdungsbeurteilung verbindlich geregelt, noch haben sie mit wirkungsvollen Sanktionen bei Verstößen zu rechnen.
Das hat eine Studie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) und der Uniklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Freiburg jetzt gezeigt. In europäischen Nachbarländern ist man wesentlich weiter.
Die DGPPN fordert angesichts dieses Defizits, dass psychosoziale Risiken in der Arbeitswelt hierzulande stärker berücksichtigt, die Umsetzung des erweiterten Arbeitsschutzgesetzes vorangetrieben und verbindliche Regelungen unter Beteiligung von Arbeitsmedizinern erstellt werden müssen.
Quer durch alle Branchen nehmen Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen zu. Der Studie zufolge verursachen sie 40 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage und rangieren damit auf Platz zwei der Krankschreibungen. 75.000 Menschen scheiden jährlich wegen psychischer Leiden vorzeitig aus dem Berufsleben aus.
Der Gesetzgeber hat reagiert und das Arbeitsschutzgesetz erweitert: Seit Ende 2013 sind Arbeitgeber gehalten, im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung am Arbeitsplatz auch psychische Belastungen zu erfassen.
Doch das geschieht bislang nicht konsequent. Nach einer Erhebung des Ausschusses der höheren Arbeitsaufsichtsbeamten (SLIC) der EU wurden in Deutschland nur bei der Hälfte der inspizierten Arbeitsplätze auch psychosoziale Risiken ganz oder teilweise erfasst. Der Anteil wird in kleineren Betrieben noch weit niedriger geschätzt.
Regierung: Erkenntnisse unklar
Kriterien für eine Beurteilung der Gefährdung von psychischen Belastungen
Kann der Beschäftigte die Reihenfolge oder das Pensum der Tätigkeit mitbestimmen?
Sind die Kompetenzen und Verantwortlichkeiten klar? Sind notwendige Informationen verfügbar?
Beinhaltet die Arbeit eine hohe emotionale Inanspruchnahme, wie Umgang mit schweren Krankheiten oder Tod oder bedrohliche Situationen?
Wird in Wechselschichten gearbeitet oder in Nachtdiensten?
Wird unter hohem Zeitdruck gearbeitet? Lassen sich die Arbeitszeiten gut planen?
Sind regelmäßige Pausen möglich?
Eine konsequente Umsetzung scheitert beispielsweise an der Frage, wie man gesundheitsgefährdende Arbeitsüberlastungen misst und ob es hierfür eine Messgröße geben kann.
Die Bundesregierung hält die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu dieser Frage noch nicht für ausreichend und sieht deshalb keinen Handlungsbedarf für eine eigenständige Verordnung mit klarer Regelung des Vorgehens.
Die DGPPN und die Psychiater der Uni Freiburg haben in ihrer Studie untersucht, wie dies in anderen europäischen Ländern geregelt ist und festgestellt, dass dies dort "pragmatisch und erfolgreich angegangen" werde.
Beispiel Frankreich: Wird dort die Gefährdungsbeurteilung nicht oder ungenügend erstellt, so gilt dies als unentschuldbarer Fehler im Arbeitsverhältnis. Der Arbeitgeber wird in Haftung genommen.
Kommt es dann zu einem Arbeitsausfall beispielsweise durch Burn-out bedingte Depressionen, haftet er für die Folgen, wenn er das Risiko in seiner Gefährdungsbeurteilung hätte erkennen können oder müssen. Das reicht von hohen Geldbußen bis zu Gefängnisstrafen.
Deutsche Arbeitgeber dagegen haben zunächst keine Sanktionen zu befürchten, wenn eine Gefährdungsbeurteilung nur mangelhaft oder gar nicht umgesetzt wird.
Erst wenn die zuständigen Landesbehörden für Arbeitssicherheit den Arbeitgeber auf die Verletzung seiner Pflichten hingewiesen haben und dies innerhalb einer Frist nicht nachgebessert wird, kann die Pflichtverletzung als Ordnungswidrigkeit geahndet werden. Klare Regelungen gebe es aber nicht, bemängeln die Autoren.