Live aus London

Tag 5 - "Ich fühle mich schuldig, wenn ich einen Arzt anspreche"

Unser Korrespondent Arndt Striegler liegt als Patient im St. Thomas Hospital - und erlebt das britische NHS-System am eigenen Leib. In unserem Blog berichtet er live vom Krankenbett. Heute erzählt er von der Kehrseite einer für Patienten kostenlosen Gesundheitsfürsorge.

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Live vom Krankenbett: unser London-Korrespondent berichtet aus Londoner Krankenhaus.

Live vom Krankenbett: unser London-Korrespondent berichtet aus Londoner Krankenhaus.

© Arndt Striegler

LONDON Es geht mir jeden Tag ein bißchen besser und das zeigt sich unter anderem darin, dass mich Missstände auf meiner Station, die mir vor zwei, drei Tagen nur nebensächlich erschienen, plötzlich irritieren.

Verspätet und gestresst

Beispiel Morgenvisite. In der Regel kommen die Stationsärzte (in der Regel junge Assistenzärzte) morgens zwischen 9.30 Uhr und 11 Uhr. Sie reden kurz mit mir, schauen sich die Krankenakte an, in die aktuellen Blutwerte, Herzfrequenz und Details über Medikamente zu lesen sind, und wenn alles im grünen Bereich scheint, zum nächsten Patienten gehen. Das ganze dauert nicht länger als zwei bis drei Minuten.

Heute morgen freilich ließ die Morgenvisite auf sich warten. Genauer gesagt: Sie kam schließlich zweieinhalb Stunden verspätet.

Der junge Stationsarzt war allein (ungewöhnlich), entschuldigte sich für die Verspätung und war ganz eindeutig gestresst. "Ich bin heute allein", erklärt der Mediziner seine Situation. "Bei uns fehlen die Ärzte an allen Ecken und Enden."

Das merke ich als Patient. Die wenigen Ärzte, die auf der Station zu sehen sind, sind stets in großer Eile und ich fühle mich schuldig, wenn ich versuche, kurz mit ihnen zu reden, denn ich möchte ja nicht noch zu ihrer ohnehin hohen Arbeitsbelastung negativ beitragen!

Jede fünfte Stelle unbesetzt

Das Londoner St. Thomas Hospital, in dem ich seit nunmehr fünf Tagen wegen akuter Pneumonie als Patient stationär behandelt werde, ist keinesfalls die Ausnahme, wenn es um Ärztemangel innerhalb des staatlichen britischen Gesundheitsdienstes (National Health Service, NHS) geht.

Laut Londoner Gesundheitsministerium fehlen landesweit "mehrere tausend" Krankenhausärzte. In einigen Kliniken bleibt derzeit bis zu jede fünfte Stelle unbesetzt.

Tausende Ärzte im Ausland angeheuert

Daher hat der NHS allein in den vergangenen zwölf Monaten rund 3000 Ärzte im Ausland angeheuert. Polen, Indien, Australien und Griechenland sind einige der Länder, in denen die Briten derzeit besonders aktiv nach Ärzten suchen.

Kehrseite der kostenlosen Gesundheitsfürsorge

Und dass auf meiner Station die Ärzte fehlen, ist ganz offensichtlich. Zugegeben- im Spätwinter ist der Druck auf die Kliniken wetterbedingt besonders groß. Doch "das ständige Jonglieren" (so die Stationsschwester) gehört hier genau wie in den meisten anderen staatlichen britischen Kliniken längst ganzjährig zum Klinik-Alltag.

Und ich denke plötzlich: das ist die Kehrseite einer für Patienten kostenlosen Gesundheitsfürsorge: es gibt wenig Anreize, die NHS-Angebote nicht anzunehmen.

Viele Notfälle unnötig

Zahlen zeigen, dass viele Besuche auf den Notfallstationen und Ambulatorien der Kliniken unnötig sind und besser entweder in der Hausarztpraxis oder Zuhause therapiert würden.

Ich überlege kurz, ob ich so ein Fall bin. Und denke: nein, akute Pneumonie und die Ärzte in der Notfallmedizin, die mich vor einigen Tagen untersuchten, wiesen mich sofort ein. Das hatte natürlich seinen Grund.

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Kommentare
Margarita Moerth 09.03.201611:52 Uhr

Die Kehrseite von (vermeintlich) kostenlos

Herr Striegler schreibt: "Und ich denke plötzlich: das ist die Kehrseite einer für Patienten kostenlosen Gesundheitsfürsorge ..."
In der Tat.
Doch trifft dies auch auf das Zahlen gesetzlich festgelegter Krankenkassenbeiträge zu. Die nützt man dann weidlich aus (ich zahle schließlich jeden Monat), während man als Privatversicherter mit satten Selbstbehalten dreimal überlegt, ehe man einmal zum Arzt geht.
Ist man überhaupt nicht krankenversichert, wird wird es ganz schlimm, ist man doch rasch als Sozialschmarotzer stigmatisiert; - und fühlt sich womöglich auch noch selbst so, aus welchen Gründen immer man ins soziale Out geraten sein mag.

Wie man es auch dreht oder wendet, der Spagat zwischen dem Ideal (freier Zugang zu Krankenbehandlung und Gesundheitsvorsorge für alle) und Zwei- bzw. Drei-Klassen-Medizin scheint ein Ding der Unmöglichkeit zu sein.

Dr. Henning Fischer 09.03.201609:51 Uhr

typische Auswirkungen der Gesundheitssysteme "alles bieten, dabei maximal sparen" wie in Deutschland


wenig bieten, dabei sparen wie z.B. in Spanien wäre besser

So entsteht eine Ärztevölkerwanderung vom Mittelmeer über Mitteleuropa nach Nordeuropa.

Und die Mittelmeerländer holen sich dann Medizinmänner aus Afrika. Und da krepieren die Leute sowieso.

Welch eine Schande!

Dr. Christoph Schuster 09.03.201608:30 Uhr

nicht nur in England

Das von Herrn Striegler angesprochene Problem scheint nicht nur in England relevant zu sein. Auch deutsche Kliniken werden zunehmend von ambulanten Patienten überrannt. Auch hier gehört "das ständige Jonglieren" (nicht nur im Spätwinter)zum Klinikalltag.
Und auch hier fehlt es oftmals an gut ausgebildetem medizinischem Nachwuchs (sowohl Ärzte als auch Pflegepersonal). Dass dann die wenigen vorhandenen Ärzte und Pflegekräfte oft gestresst sind, ist auch kein Wunder.
Von hier aus weiterhin gute Besserung Herr Striegler!

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