Jugendpsychiater

"Wir müssen in Familien gehen"

Gesellschaftliche Veränderungen sind Leitmotiv beim Kinder- und Jugendpsychiatrie-Kongress. Um psychisch kranke Kinder besser zu erreichen, sollte die Behandlung in den Familien forciert werden, fordert Kongresspräsident Professor Gerd Schulte-Körne im Interview mit der "Ärzte Zeitung".

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Professor Gerd Schulte-Körne ist Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie an der LMU München.

Professor Gerd Schulte-Körne ist Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie an der LMU München.

© privat

Das Interview führte Thomas Müller

Ärzte Zeitung: Krankenkassen melden mehr psychische Krankheiten bei Kindern und Jugendlichen. Gleichzeitig scheint die Prävalenz konstant zu bleiben. Werden also Minderjährige mit psychischen Störungen heute eher erkannt und behandelt?

Prof. Gerd Schulte-Körne: Die Detektionsrate bei Kinder und Jugendlichen ist in der Tat deutlich gestiegen. Früher dachten viele Eltern, Kinder könnten gar nicht psychisch krank sein. Oder sie haben gesagt: ,In unserer Familie gibt es das nicht.‘

Das hat sich glücklicherweise geändert, jedoch nicht in allen gesellschaftlichen Schichten. Risikogruppen wie sozial schwache Familien, Kinder mit psychisch kranken Eltern oder solche mit Migrationshintergrund erreichen wir oft nicht.

Ihnen fällt der Zugang zum Gesundheitswesen besonders schwer.

Wo liegt das Problem?

Schulte-Körne: Ein aktuelles Beispiel: Viele der Flüchtlinge aus Syrien oder Afrika sind noch minderjährig, ohne Eltern und schwer traumatisiert. Wie gehen wir mit ihnen um? Wer kümmert sich um sie?

Ist das eine Aufgabe der Kinder- und Jugendpsychiater? Hinzu kommen Vorbehalte wie: Sind diese Jugendlichen überhaupt krank oder haben ihnen die Schlepper das nur eingeredet? Eine solche Haltung ist sehr problematisch.

Auf der anderen Seite haben Familien mit Migrationshintergrund oft eine kulturell bedingte Skepsis gegenüber unserem Versorgungssystem. Was wir für auffällig halten, ist für sie noch normal.

Sie bewerten Symptome oft anders. Hört jemand Stimmen, die ihm befehlen, dies oder jenes zu tun, ist das in manchen afrikanischen Kulturen nichts Ungewöhnliches. Das wird im Alltag akzeptiert.

Wenn wir nun sagen, das sei eine Krankheit, können es die Patienten oder ihre Eltern nicht nachvollziehen. Solche kulturellen Unterschiede müssen wir stärker berücksichtigen.

Wie ließe sich der Zugang zur psychiatrischen Versorgung verbessern?

Schulte-Körne: Wir können derzeit psychisch gefährdete Kinder und Jugendliche kaum aufsuchen und in den Familien behandeln. Das wäre aber nötig, um die zu erreichen, die den Weg zum Facharzt oder in die Klinik von sich aus nicht schaffen.

Auch für die Nachsorge nach einem stationären Aufenthalt wäre ein "Home-Treatment" wichtig. Wenn die Kinder nach einem halben Jahr aus der Klinik zurückkommen, sind die Familien oft überfordert.

Es fehlen Strukturen, um sie zu unterstützen. Hier wird eine deutliche Lücke in der Versorgung erkennbar.

Was müsste geschehen?

Schulte-Körne: Klinikärzte oder niedergelassene Fachärzte sollten die Möglichkeit haben, ein gewisses Stundenkontingent in Familien zu erbringen.

Wir Klinikärzte dürfen das nicht, und bei den niedergelassenen Kollegen wird es kaum honoriert. Die DGKJP fordert daher, an der Stelle etwas zu ändern.

Beim DGKJP-Kongress stehen gesellschaftliche und familiäre Veränderungen im Mittelpunkt. Welche sind für die psychische Gesundheit besonders wichtig?

Schulte-Körne: Immer mehr Kinder wachsen mit einem alleinerziehenden Elternteil auf oder erleben die Trennung ihrer Eltern in einer Phase, die für ihre psychische Entwicklung sehr kritisch ist.

Beides ist mit erheblichen Belastungen verbunden. Eine Trennung ist daher ein Risikofaktor für psychische Störungen.

Ist eine schlechte Ehe, in der niemand die Scheidung wagt, nicht ähnlich belastend?

Schulte-Körne: Natürlich sind auch eine schlechte Beziehung, schwere körperliche und psychische Krankheiten sowie ein Alkoholproblem der Eltern Risikofaktoren.

Es kommt aber darauf an, wie schwerwiegend und wie andauernd die Probleme sind. Eine Scheidung wirkt anders: Sie ist dauerhaft und hat meist den Verlust einer Identifikationsfigur zur Folge.

Die Kinder versuchen dann häufig, die Rolle des fehlenden Elternteils zu übernehmen. Das führt zu einer massiven Überforderung.

Welche Veränderungen setzen Kindern noch zu?

Schulte-Körne: Wir werden mit neuen Erkrankungsformen wie Internetabhängigkeit konfrontiert, und das Cybermobbing hat enorm zugenommen.

Auf dem Kongress diskutieren wir, welche Grenzen Eltern bei den Neuen Medien ziehen sollten, wie man die Familien darauf vorbereiten und sie stärken kann. Auch die Verkürzung der Gymnasialzeit birgt Risiken.

Viele Schüler kommen damit gut klar, aber diejenigen, die besonders gefährdet für eine psychische Erkrankung sind, dekompensieren möglicherweise unter dem stärkeren Leistungsdruck.

Bei all dem dürfen wir auch biologische Risikofaktoren nicht vergessen. Die Gehirnentwicklung ist bei Jugendlichen noch nicht vollständig abgeschlossen. Nervenzellen, die für die kognitive Funktion wichtig sind, knüpfen in dieser Phase viele neue Verbindungen.

Stress beeinflusst diesen Prozess. Die Frage, ob und wie wir bei Minderjährigen intervenieren, ist daher auch für die Prävention psychischer Krankheiten entscheidend.

Nicht jede Präventionsmaßnahme ist sinnvoll, manche sogar schädlich - auch darüber werden wir sprechen.

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Kommentare
Anita Gradl 10.03.201511:54 Uhr

Ist es wirklich Ärztesache?

In der Realität sieht der Kinderpsychiater seine Patienten nach wochenlanger Testerei eine kurze Zeit und entscheidet oft na h Testergebnissen, die in der Regel von Ausbildungskandidaten oder Berufsanfängern gemacht werden. Ein Konsil mit den behandelnden Psychotherapeuten der die Familiensituation und meist auch die örtlichen Gegebenheiten kenn5 haben sie seltenst nötig. Als Familie würde ich skeptisch bleiben.

Dr. Peter Lorenz 05.03.201510:28 Uhr

Familienpsychiatrie

Solange Psychiater sich als Komplizen staatlicher Bemühungen aufspielen, Bürgern ihre Freiheitsrechte nehmen zu können und sie mit Fesselungen und therapeutisch nicht begründbaren „präventiven“ Zwangsbehandlungen foltern zu können, wird der Versuch, in die Familien einzudringen, nur Alarmglocken läuten lassen. Wenn schon afrikanische Flüchtlinge den Psychiatern beibringen können, dass „Stimmenhören“ keine Krankheit ist, wäre es ratsam, wenn sie sich Behandlungsmöglichkeiten erschließen würden, die sich aus der Nutzung der neuronalen Plastizität des Gehirns ableiten lassen.

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