Patienten-Empowerment bei Adipositas
Patientenleitlinien – der Weg zu höherer Adhärenz im Alltag
„Soll“, „sollte“, „kann“ – Formulierungen in Leitlinien, die für Ärzte selbstredend sind, können bei Patienten Ratlosigkeit auslösen. Im Sinne des Patienten-Empowerments setzt die Deutsche Adipositas-Gesellschaft auf Aufklärung – via Patientenleitlinie. Die soll partizipativen Patientenentscheidungsfindungen den Weg ebnen.
Veröffentlicht:NEU-ISENBURG. „Wir möchten, dass Sie die gleichen Empfehlungen kennen, die auch Ihre Ärzte erhalten. Deshalb finden Sie diese in der Patientenleitlinie. So können Sie gezielt danach fragen, was in Ihrem ganz persönlichen Fall zutreffend ist“ – ohne Umschweife wendet sich die aktuelle Patientenleitlinie der SRH Hochschule für Gesundheit und der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG) zu Prävention und Therapie bei Adipositas an Betroffene, Angehörige und nahestehende Personen.
Ihr Ziel: Patienten-Empowerment und damit eine höhere Adhärenz adipöser Patienten in der Versorgung. Denn gerade bei Adipositas-Patienten ist diese für behandelnde Ärzte eine besonders große Herausforderung. Dabei ist unterstellt, dass mangelnde Compliance auch Ausdruck eines unzureichenden Verständnisses des Patienten für die Therapieentscheidungen des Arztes sein könnte.
Um im Sinne des Patienten-Empowerments „Waffengleichheit“ zwischen Ärzten und adipösen Patienten herzustellen, haben der Geraer Campus der SRH Hochschule für Gesundheit und die Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG) als wissenschaftliche Fachgesellschaft vor Kurzem die „Patientenleitlinie zur Diagnose und Behandlung der Adipositas“ herausgegeben. Inhaltlich orientiert sie sich an der „S3-Leitlinie Prävention und Therapie der Adipositas“.
Leitlinien mit identischen Inhalten
Die Patientenleitlinie ist unter der Leitung der Professorinnen Sylvia Sänger und Claudia Luck-Sikorski von Studierenden des Masterstudiengangs Medizinpädagogik an der SRH Hochschule für Gesundheit in einem wissenschaftlichen Projekt erstellt worden. „Die Adipositas ist eine komplexe Erkrankung, die auch komplex behandelt werden muss. Diesem Umstand haben wir nicht nur in der ärztlichen, sondern auch in der Patientenleitlinie Rechnung getragen und deshalb auch alle maßgeblichen Fachgesellschaften und Professionen an der Ausarbeitung beteiligt“, erläutert Luck-Sikorski.
Konkret waren von dritter Seite laut SRH bei der Erstellung der Patientenleitlinie neben Hausärzten und Internisten auch Endokrinologen, Ernährungstherapeuten und -berater, Physiotherapeuten sowie Psychologen beteiligt. Oberstes Ziel des Geraer Projektes sei es gewesen, die sonst eher übliche, asymmetrische Kommunikationskonstellation zwischen Arzt und Patient im Versorgungsalltag zu vermeiden. Die Patienten sollen gut informiert – und damit mit einer gewissen Gesundheitskompetenz ausgestattet – in das Gespräch mit ihrem Arzt gehen.
Die Crux bei der Sache: Chronische Krankheiten, wie die Adipositas, sind hochkomplex und langfristig. Sie gehen, wie auch die DAG-Experten hervorheben, mit vielfältigen Anforderungen an die Krankheitsbewältigung und einem hohen und immer wieder sich verändernden Bedarf an Information, Kommunikation und Unterstützung einher.
Kontraproduktiv auf das Arzt-Patienten-Verhältnis wirkt sich in diesem Zusammenhang allerdings aus, dass der Anteil an Patienten mit eingeschränkter Gesundheitskompetenz bei chronisch Kranken mit fast 73 Prozent besonders hoch ist, wie Erhebungen im Kontext des Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz ergeben haben.
Patientenleitlinie will Entscheidungskompetenz stärken
Um dieses Defizit dauerhaft zu beheben, sind Patientenleitlinien eine gute Option, wie Professor Martin Härter, Direktor des Instituts und der Poliklinik für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Eppendorf hervorhebt. Im Sinne des Empowerments setzt er patientenseitig unter anderem auf partizipative Entscheidungsfindungen. Hier kommen die Patientenleitlinien wieder ins Spiel, die den Patienten durch das zu vermittelnde Wissen in seiner Gesundheits- und damit Entscheidungskompetenz stärken kann.
Ähnlich den Hinweisen zur Lektüre von Gesetzes- und anderen Rechtstexten geht es bei der Aufklärung der Adipositas-Patienten zunächst einmal um die Erklärung von Formulierungen, die im Sprachalltag gerne synonym verwendet werden, in der Medizin hingegen nicht.
„Wenn Sie in einer Empfehlung lesen, dass etwas gemacht oder nicht gemacht werden ‚soll‘, dann heißt das, dass es sehr gute wissenschaftliche Begründungen dafür gibt. Es handelt sich um eine starke Empfehlung. An der Formulierung ‚sollte‘ erkennen Sie, dass die Maßnahme aufgrund der Erfahrungen der Experten sinnvoll ist, aber es bisher keine sehr guten wissenschaftlichen Begründungen gibt.
Wenn Sie die Formulierung, dass etwas getan oder unterlassen werden ‚kann‘, vorfinden, so geben die Experten keine Empfehlung, und die Entscheidung muss dann im Einzelfall getroffen werden“, erfährt der Leser in der Patientenleitlinie.
Ohne die Begrifflichkeiten des Patienten-Empowerments oder der partizipativen Patientenentscheidungsfindung expressis verbis zu bemühen, rufen die Autoren der Leitlinie die Patienten jedoch dazu auf, ihr Krankheitsmanagement – und damit ihr Schicksal – selbst in die Hand zu nehmen.
„Wir möchten Sie und Ihre Angehörigen mit dieser Patientenleitlinie dazu ermuntern und auch dabei unterstützen, sich an allen Entscheidungen zu Ihrer Gesundheit zu beteiligen. Haben Sie keine Scheu davor, Ihrem Arzt oder anderen medizinischen Experten Fragen zu stellen. Sprechen Sie alles an, was Sie nicht verstanden haben und was Sie ängstlich oder unsicher macht. Sagen Sie auch offen, wenn Sie sich nicht verstanden oder missverstanden fühlen“, lautet der Appell.
Aufklärung über Patientenrechte
Die Leitlinie verdeutlicht ihren Adressaten auch, dass Ärzte zwar Respekt verdienen, sie aber keinesfalls wie im rechtsfreien Raum schalten und walten können, Patienten auch umfangreiche Rechte genießen – die sie auch einfordern können. „Sie haben ein Recht auf verständliche Informationen und Aufklärung über das Krankheitsbild und alle medizinischen Maßnahmen, die infrage kommen, die Erkrankung zu erkennen und zu behandeln“, heißt es dazu.
Schonungslos geht die Leitlinie auch auf die Themen Ursache und Folgen der Adipositas, Hilfsangebote sowie die gesellschaftliche Stigmatisierung ein. Auch das gehört zum Patienten-Empowerment – starke Patienten können besser mit Anfeindungen umgehen.