Verfassungsgericht
Tarifeinheitsgesetz lässt viele Fragen offen
Das Tarifeinheitsgesetz könnte Berufsgewerkschaften wie den Marburger Bund in der Bedeutungslosigkeit versinken lassen. Die Verfassungsrichter müssen nun entscheiden, ob es gekippt, nachgebessert oder unverändert fortbestehen soll.
Veröffentlicht:Wie werden die Verfassungsrichter über die Zukunft des Tarifeinheitsgesetzes entscheiden? Darüber eine Prognose abzugeben, ist nach der zweitägigen mündlichen Verhandlung in Karlsruhe unmöglich. Ergeben hat sich aber, dass dieses Gesetz viele Fragen aufwirft und dass es die Spartengewerkschaften massiv benachteiligt. Das ließ sich eindeutig an den Fragen der Verfassungsrichter erkennen.
So stellte Professor Johannes Masing fest: "Das Prinzip der Verdrängung scheint mir nicht sehr schlüssig zu sein, weil die Minderheitsgewerkschaft nichts kriegt. Sie bleibt praktisch ohne Alternative". Sein Kollege Professor Andreas L. Paulus schloss sich an: "Das Nachzeichnungsrecht ist eigentlich völlig funktionslos. Wenn überhaupt kann die Minderheitsgewerkschaft nur einmal nachzeichnen, dann ist ohnehin klar, dass sie in der Minderheit ist und keine Tarifverträge mehr abschließen kann."
Richterin Professor Gabriele Britz suchte im Gesetz offenbar vergeblich etwas, "das den kleinen Gruppen hilft". Denn nach dem im Juli vergangenen Jahres in Kraft getretenen Tarifeinheitsgesetz gilt im Streitfall nur der Tarifvertrag der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern in einem Betrieb. Verträge von Berufsgewerkschaften wie dem Marburger Bund oder der Pilotenvereinigung Cockpit würden komplett verdrängt. Sie könnten höchstens noch den Tarifvertrag der größeren Gewerkschaft nachzeichnen.
Mehr Befriedung oder stärkere Konkurrenz?
Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles verteidigte vor den Verfassungsrichtern ihr Gesetz. Keineswegs sei es eine Reaktion auf die Streiks der vergangenen Monate und Jahre, die vor allem den Flug- und Bahnverkehr beeinträchtigt haben. Ihr gehe es allein um die Befriedungsfunktion und die Solidarität in den Betrieben.
Es gebe zunehmend Konflikte der Gewerkschaften untereinander, die zu immer längeren und härteren Tarifauseinandersetzungen führten. Die Stärke der Tarifpartnerschaft sei immer die Vermeidung von Tarifkollisionen gewesen. Das habe sich mit dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts von 2010 geändert. Damals hatten die Erfurter Richter das Prinzip "ein Betrieb, ein Tarifvertrag" gekippt.
Aber sorgt das Tarifeinheitsgesetz tatsächlich für mehr Kooperation und Frieden in den Betrieben oder schürt es nicht gerade die Konkurrenz der Gewerkschaften untereinander? Auch diese Frage interessierte die Verfassungsrichter. Denn letztlich muss jeder Gewerkschaft daran gelegen sein, die stärkste im jeweiligen Betrieb zu werden.
Für den Marburger Bund (MB) könnte das zum Beispiel bedeuten, sich von einer Ärztegewerkschaft zu einer Gesundheitsgewerkschaft wandeln zu müssen, die auch Pflegekräfte und andere Beschäftigte im Gesundheitswesen vertritt. Das will der MB eigentlich nicht.
Ganz im Gegenteil: "Wir wollen nichts weiter als Ärztegewerkschaft bleiben und auf diesem Wege unseren Beitrag zur Gestaltung der Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern leisten", machte MB-Chef Rudolf Henke klar. Aber letztlich stellt sich nicht nur für den MB die Existenzfrage, wenn das Gesetz bestehen bleibt.
Ihnen gehe es nicht darum, auf Kosten anderer zu agieren, sondern Tarifverträge auszuhandeln, die auf die eigene Berufssparte zugeschnitten sind, versicherten die Vertreter der Spartengewerkschaften. Ganz plastisch drückte es der Vorsitzende der Flugbegleitergewerkschaft UFO, Nicoley Baublies, aus.
"Flugbegleiter ist ein hauptsächlich weiblicher Beruf. Wir haben viele Teilzeitangestellte. Die wollen vielleicht mehr Freizeitausgleich. Piloten können vom Fliegen oft nicht genug kriegen, die wollen vielleicht lieber einen kräftigen Schluck aus der Gehaltspulle", so Baublies. Da seien getrennte Tarifverträge sinnvoller als nur einer für alle.
Nutzen die Hochqualifizierten ihre Position aus?
"Ist für Sie Verteilungsgerechtigkeit denn gar kein Thema?", wandte sich der Vorsitzende des Ersten Senats und Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Professor Ferdinand Kirchhof, an die Beschwerdeführer. Der horizontale Ausgleich innerhalb eines Betriebes solle alle zufriedenstellen, das habe nicht funktioniert. Deshalb sei der Marburger Bund aus der Tarifgemeinschaft mit Verdi ausgestiegen, verteidigte der Prozessbevollmächtigte des MB, Professor Frank Schorkopf, das Anliegen der Ärztegewerkschaft.
"Die Ärzte fühlten sich nicht mehr ausreichend wahrgenommen." Die Verteilungsgerechtigkeit müsse ausgerungen werden, "das kann doch nicht der Gesetzgeber entscheiden", so Schorkopf. "Wenn der Marburger Bund gezwungen würde, eine Gesundheitsgewerkschaft zu werden, wäre er nicht mehr derselbe", wandte der Göttinger Juraprofessor ein.
Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Reiner Hoffmann, der als sachkundiger Dritter an der Verhandlung teilnahm, verteidigte dagegen das Mehrheitsprinzip. Bei Tarifverhandlungen sollten Gewerkschaften alle Lohngruppen in den Blick nehmen und nicht nur die Hochlohngruppen. Vereinbarungen für einzelne Gruppen oder spezielle Regelungen hätten ihren Preis, das müsse mitberücksichtigt werden , so der DGB-Chef.
Für die Verfassungsrichter dürfte die Urteilsfindung nicht so einfach sein. "Weil der Gesetzgeber sich bisher bei der Regelung der Konkurrenz im Arbeitnehmerlager normativ zurückgehalten hat, betreten wir hier Neuland", sagte Ferdinand Kirchhof zu Beginn der Verhandlung.
Gesetz zur Tarifeinheit
Das Gesetz regelt, dass bei sich überschneidenden Tarifverträgen nur derjenige gilt, dessen Gewerkschaft die meisten Mitglieder im Betrieb vertritt.
Wer die meisten Mitglieder hat, müssen in Zweifelsfällen die Arbeitsgerichte klären.
Kleineren Gewerkschaften bleibt nur die Möglichkeit, den vorhandenen Tarifvertrag nachzuzeichnen.
Dem Bundesverfassungsgericht liegen elf Beschwerden gegen das Gesetz vor. Fünf wurden zur Verhandlung ausgewählt. Unter anderem die des Marburger Bundes.