Medizin contra Handwerk

Ärzte gegen Hörakustiker: Wem gehört der äußere Gehörgang?

Wildern Hörakustiker in angestammten Gefilden der HNO-Ärzte? Oder geht mit Letzteren nur die Streitlust durch, nachdem eine neue Meisterprüfungsverordnung den Gesundheitshandwerkern zugesteht, die Ohren ihrer Kundschaft „berufsbezogen“ zu reinigen? Die Sachlage ist klar. Wie der Konflikt ausgeht, noch lange nicht.

Christoph WinnatVon Christoph Winnat Veröffentlicht:
Heilkunde oder Handwerk? Zwischen HNO-Ärzten und Hörakustikern ist ein Streit entbrannt, wer zur professionellenReinigung des äußeren Gehörgangs berechtigt ist.

Heilkunde oder Handwerk? Zwischen HNO-Ärzten und Hörakustikern ist ein Streit entbrannt, wer zur professionellen Reinigung des äußeren Gehörgangs berechtigt ist.

© Johannes Hüsch

Wer darf sich an den Ohren professionell zu schaffen machen? Handelt es sich bei deren schlichter Reinigung bereits um „Ausübung der Heilkunde“, wie sie laut Heilpraktikergesetz unter Arztvorbehalt steht? Eine Frage, um die zwischen HNO-Ärzten und Hörakustikern ein Streit entbrannt ist, der nach aktueller Tonlage zu urteilen das Zeug hat, sich zu einem veritablen Kleinkrieg auszuwachsen. Demnächst ist die Justiz am Zug.

Es geht um das Gelbe im Ohr, in der Fachsprache „Cerumen“ genannt, im Volksmund „Ohrenschmalz“. Und darauf reimte vor Jahren schon ein Autor der Fachzeitschrift HNO-Nachrichten „Gott erhalt‘s!“ – was nicht nur silbentechnisch naheliegt. Denn es geht um keine Kleinigkeit. Ist doch ein Cerumen obturans der häufigste Anlass, warum Patienten die Fachpraxen aufsuchen. Noch einmal die HNO-Nachrichten: „Ohrenschmalz ist ein nachwachsender Rohstoff, der schon viele Generationen von HNO-Ärzten bestens genährt hat.“

Und ausgerechnet an dieser existenziellen Schnittstelle wollen die Hörakustiker nun mitmischen – sprich: die Ohren ihrer Kunden bei Bedarf selbst von störendem Belag befreien? Wobei sie das doch nicht erst seit gestern tun, wie Jakob Baschab, Hauptgeschäftsführer der Bundesinnung der Hörakustiker (biha) betont. „Wir haben das schon immer gemacht. Wäre die Gehörgangsreinigung als Heilkunde im Sinne des Heilpraktikergesetzes zu qualifizieren, würden auch alle sonstigen Tätigkeiten des Hörakustikers im äußeren Gehörgang als Heilkunde einzustufen sein. Dies käme einem Berufsverbot gleich.“ Insbesondere um Formpassstücke für Hörhilfen (Otoplastik) anzufertigen, so Baschab weiter, sei die Ohrreinigung unerlässlich.

„Mit allen juristischen Mitteln“

Beim Berufsverband der Hals-Nasen-Ohrenärzte sieht man das anders. So schrieb unlängst dessen Präsident Professor Jan Löhler: „Nachdem die Hörgeräteakustiker seit einiger Zeit Fortbildungskurse zur Cerumenentfernung an Dummies anbieten, scheinen sie jetzt den nächsten Schritt gehen zu wollen, indem sie diese Leistung offensiv ihren Kunden anbieten“. Dagegen werde der Berufsverband „mit allen zur Verfügung stehenden juristischen Mitteln vorgehen“.

Laut einer Mitteilung der Geschäftsstelle des HNO-Verbandes wird das „mutmaßliche Vordringen eines Handwerksberufs in die ärztliche Heilkunde“ keineswegs als „Lappalie“ erachtet. „Das Eindringen mit Instrumenten in den Gehörgang“, heißt es weiter, „stellt einen körperlichen Eingriff dar, der mit Risiken und Komplikationen verbunden ist und in der HNO-ärztlichen Weiterbildung vermittelt wird.“ Die Verbandsmitglieder seien „aufgerufen, bekanntgewordene Fälle von Cerumenentfernung oder die Bewerbung von Ohrreinigungen durch Hörgeräteakustiker in der Geschäftsstelle zu melden“.

Formulierungen wie „scheinen den nächsten Schritt gehen zu wollen“ oder „mutmaßliches Vordringen“ deuten darauf hin, dass sich die HNO-Fraktion ihrer Sache nicht hundertprozentig sicher ist. Vielleicht ist alles nur ein Missverständnis? biha-Geschäftsführer Baschab beteuert jedenfalls, man wolle „den Ärzten nichts wegnehmen. Wir verdienen damit nichts und wollen das auch gar nicht.“ Baschab auf die Ankündigung des HNO-Verbands, rechtlich durch alle Instanzen ziehen zu wollen: „Wir ziehen mit“.

Stein des Anstoßes: Neue Meisterprüfungsverordnung

Den Auftakt machte der HNO-Verband Ende April mit einer Abmahnung gegen Dr. Frederick Hahn. Der Leiter der Abteilung Fort- und Weiterbildung an der innungseigenen Akademie für Hörakustik in Lübeck hatte in einem Artikel („Cerumenentfernung – Ohrreinigende Maßnahmen im Fachgeschäft“) unter anderem darauf hingewiesen, dass laut 2022 novellierter Meisterprüfungsverordnung „der Meisterbrief zum Einleiten ohrreinigender Maßnahmen berechtigt“.

Binnen sieben Tagen sollte Hahn laut anwaltlich vorformulierter Erklärung – und bei angedrohten 2.500 Euro Vertragsstrafe „für jeden Fall der künftigen Zuwiderhandlung“ – einwilligen, „es ab sofort zu unterlassen, wörtlich oder sinngemäß zu verlautbaren und (zu) veröffentlichen, dass Hörakustikermeister zur Durchführung ohrreinigender Maßnahmen in Form von Gehörgangsreinigungen und/oder Cerumenentfernung aus dem Gehörgang befugt wären“. Was Hahn jedoch ungehört verhallen ließ; die geforderte Unterlassungserklärung gab er nicht ab.

Auf Nachfrage dieser Zeitung zum weiteren Vorgehen erklärte HNO-Präsident Löhler: „Wir als Berufsverband werden die Angelegenheit auf sich beruhen lassen. Angesichts des nicht ganz eindeutigen Wortlauts der Hörakustikermeisterverordnung haben wir aus formalen Gründen von weiteren Schritten gegen Herrn Dr. Hahn abgesehen.“

Auch Löhler nimmt damit Bezug auf den wohl eigentlichen Auslöser der Auseinandersetzung: Die neue, seit Juli 2022 gültige Hörakustikermeisterverordnung. Dort werden in Paragraf 2 als Grundlagen der „wesentlichen Tätigkeiten“ des Hörakustikers diverse „berufsbezogene Fertigkeiten und Kenntnisse“ aufgelistet. In Unterpunkt 5 auch: „otoskopische Befunde erheben und bewerten (...) und ohrreinigende Maßnahmen einleiten“.

Was bedeutet „einleiten“?

Für Innungsmanager Baschab ist die Sache damit klar. „Ohrreinigung“ im Sinne dieser Textstelle sei per Definition keine Ausübung der Heilkunde, sondern eben zur Vorbereitung etwa einer Otoplastik unerlässlich, insofern Teil des Arbeitsprozesses („berufsbezogen“) und demnach Hörakustikern erlaubt; durch die neue Meisterprüfungsverordnung sei „jetzt nur gesetzlich klargestellt worden, was vorher schon praktiziert wurde“.

HNO-Arzt Löhler hält dagegen, dass den Gesundheitshandwerkern in der Meisterprüfungsverordnung lediglich zugestanden werde, die Ohrreinigung „einzuleiten“. „Cerumenentfernung ist aber ein Schritt in einer Kaskade genauer Diagnostik. Der Hörakustiker mag beurteilen, dass bei einem Kunden eine Cerumenentfernung erforderlich ist. Muss ihn dann aber zum HNO-Arzt schicken. Das beinhaltet das Wort ‚einleiten’“. Wobei Löhler durchaus zugesteht, dass der Verordnungsgeber sich hier einer „unscharfen Wortwahl“ bedient habe.

Den Einspruch, die langfristige Terminvergabe der Fachpraxen lasse eine zeitnahe Ohrreinigung beim HNO-Arzt gar nicht zu, weist Löhler zurück. „Grundversorgende Fachärzte sind verpflichtet, offene Sprechstunden abzuhalten. Da kann ich jederzeit hingehen“.

Die Frage, ob Cerumenentfernung nun Heilkunde oder – als berufsbezogene Fertigkeit der Hörakustiker – auch Handwerk ist, sorgt nicht nur auf Verbandsebene für Missstimmung. Die Parteien bekabbeln sich bereits direkt vor Ort: In Niedersachsen forderte Mitte Mai ein HNO-Arzt einen benachbarten Hörakustiker zur Abgabe einer Unterlassungserklärung in Sachen Cerumenentfernung auf. Die allerdings nicht abgegeben wurde. „Weitere anwaltliche Aktivitäten sind uns dazu nicht bekannt“, so die Innung.

Erstes Hauptsacheverfahren anhängig

Das Zeug zur längeren Strecke scheint ein Fall aus Baden-Württemberg zu haben. Dort klagte ein HNO-Arzt zunächst per Eilverfahren beim Landgericht Heilbronn gegen eine Hörakustikmeisterin. Vor der mündlichen Verhandlung Ende Mai ließ der Vorsitzende Richter den Antragsteller wissen, dass der verteidigende Schriftsatz der Hörakustikerin glaubhaft sei. Nun sollte der Arzt dem Gericht mitteilen, welche Fakten dafür sprächen, dass die Cerumenentfernung ärztliches Fachwissen erfordert und deshalb eine Heilbehandlung darstellt.

Nachdem der Arzt diese Darlegung schuldig blieb, empfahl ihm der Richter, seinen EV-Antrag zurückzuziehen und die Angelegenheit, sofern er weiter daran interessiert sei, in einem wettbewerbsrechtlichen Hauptsacheverfahren vorzubringen. Laut Gerichtsmitteilung sei die Klage inzwischen eingereicht worden, berichtet die Innung. Eine Klageschrift liege aber noch nicht vor.

Zu ihrer Rechtfertigung hatte die beklagte Hörakustikerin in einer „Schutzschrift“ zum Eilverfahren unter anderem angeführt, dass „ohrreinigende Maßnahmen keine ärztlichen Fachkenntnisse erfordern“ und deshalb laut BGH-Rechtsprechung auch nicht dem Ausübungsverbot beziehungsweise einem Erlaubnisvorbehalt unterlägen. „Sie dienen nicht der Feststellung, Heilung oder Linderung von Krankheiten. (...) Im Gegenteil: Die verwendeten Ohrspülungen werden sogar in der Selbstanwendung empfohlen und sind frei verkäuflich.“ Im Übrigen werde von Haus- und HNO-Ärzten zwar Ohrreinigung als eigenständige medizinische Leistung angeboten. „Die eigentliche Durchführung erfolgt jedoch in der Regel nicht durch einen Arzt oder eine Ärztin, sondern durch die Assistenz.“

Bisher keine Haftungsfälle bekannt

Wie weit diese Argumente tragen, wird sich zeigen. Und das kann dauern. Unterdessen denkt man bei der Hörakustikerinnung darüber nach, per Feststellungsklage den rechtlichen Status der Ohrenreinigung ein für allemal verbindlich klären zu lassen. Dass diese Frage früher schon einmal Gegenstand gerichtlicher Erörterung gewesen wäre, ist biha-Geschäftsführer Baschab jedenfalls nicht bekannt.

Auch nicht, dass sich ein Gericht schon einmal haftungsrechtlich mit einer Ohrreinigung durch einen Hörakustiker hätte befassen müssen. Baschab: „Wenn es dazu ein Verfahren gegeben hätte, wüsste ich es.“

Branchendaten der Hörakustiker

Laut Bundesinnung gab es 2023 deutschlandweit 7.300 Betriebsstätten der Hörakustiker, in denen rund 18.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tätig sind. Der Gesamtumsatz der Branche wird für 2023 auf 2,2 Milliarden Euro geschätzt, davon 1,25 Milliarden aus GKV-Erstattung. Rund 1,6 Millionen Hörgeräte seien im Berichtsjahr abgegeben worden. Zudem nimmt die Innung an, dass bei etwa 1,7 Millionen Bundesbürgern eine Hörgeräteversorgung medizinisch indiziert wäre, bisher aber noch nicht stattgefunden hat.

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