Beginn einer neuen Ära?

RNA-basierte Therapeutika starten durch

Die Zukunft gehört RNA-basierten Therapien. Sie kommen schon bei seltenen Erbkrankheiten zum Einsatz - bald könnten sie die Behandlung von Volkskrankheiten revolutionieren.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Ein Defekt im Transthyretin-Gen verursacht die FAP.

Ein Defekt im Transthyretin-Gen verursacht die FAP.

© sunnyboy92 / Fotolia

Wenn die Abbruchrate in einer klinischen Studie unter Placebo dreifach höher ist als unter der Prüfmedikation, dann gibt es dafür eigentlich nur zwei Gründe: Entweder hat jemand die Zahlen vertauscht oder es ist ein medizinischer Durchbruch gelungen.

Bei Patisiran darf man davon ausgehen, dass Letzteres der Fall ist, jedenfalls prüft die US-Zulassungsbehörde FDA das Medikament derzeit unter dem Status "Breakthrough Therapy".

Die Arznei korrigiert eine seltene, aber tödlich verlaufende Erbkrankheit, die familiäre Amyloid-Polyneuropathie (FAP). In der Phase-III-Studie ließ sich der Krankheitsverlauf weitgehend stoppen, die Symptome bildeten sich teilweise sogar zurück.

Revolutionär an dem neuen Medikament ist vor allem der Wirkmechanismus: Es handelt sich um eine Interferenz-RNA (iRNA). Sie induziert den Abbau der Boten-RNA des defekten Transthyretin-Gens und verhindert so die Produktion des schadhaften Proteins, das die Krankheit verursacht. Patisiran könnte noch in diesem Jahr als erste iRNA eine Zulassung erhalten.

Einen Durchbruch gab es jedoch schon mit einem ähnlichen Verfahren: Vor einem Jahr wurde Nusinersen gegen spinale Muskelatrophie (SMA) eingeführt. Kinder mit einer schwer verlaufenden Form dieser Erkrankung sterben in der Regel noch vor dem zweiten Lebensjahr. Wird das Mittel früh verabreicht, überleben solche Kinder nicht nur, sie können sich auch weitgehend normal entwickeln.

Bei der Arznei handelt es sich um ein Antisense-Oligonukleotid (ASO), und auch dieses Medikament greift in die RNA-Verarbeitung ein. Bei SMA fehlt ein essenzielles Protein. Das ASO verändert die RNA einer Sicherheitskopie des defekten Gens, sodass dieses in der Lage ist, ein funktionsfähiges Protein herzustellen.

Keine kausalen Behandlungen

RNA-basierte Therapien löschen oder modifizieren also die abgelesene Information von Genen auf RNA-Ebene, bevor diese in Proteine umgewandelt wird. Sie verändern das Erbgut selbst aber nicht, sind damit also keine Gentherapien und auch keine kausalen Behandlungen. Es handelt sich aber – mit Blick auf Erbkrankheiten – um kausal wirksame Therapien, da sie die Ausprägung eines Gendefekts verhindern.

Allerdings dürften Erbkrankheiten lediglich als Türöffner für diese Therapien fungieren, denn letztlich lässt sich mit ihnen die RNA jedes beliebigen Gens spezifisch ansteuern. Die Effekte von RNA-basierten Therapeutika bei letalen Erbkrankheiten mögen zwar dramatisch, da kausal wirksam sein, ist der "Proof of Principle" aber erst einmal erbracht, gibt es kaum noch einen Grund, sie nicht auch gegen chronische Volkskrankheiten zu entwickeln. Und genau das geschieht nun.

Dazu muss nur der Code, also die Basenabfolge, in der ASO oder iRNA geändert werden. So ließen sich mit geringen Modifikationen auch Gene abschalten, herunter- oder hochregulieren, die für den Cholesterin- oder Glukosestoffwechsel wichtig sind.

Erhebliche Herausforderungen

Die Vorteile liegen auf der Hand: RNA-Therapeutika können sich auch gegen Proteine richten, die von klassischen chemischen Arzneien oder Antikörpern nicht erreicht werden, weil diese intrazellulär lokalisiert sind oder keine spezifischen Angriffspunkte bieten. Kein Wunder also, dass schon lange daran geforscht wird.

Doch die Herausforderungen sind erheblich: Oligonukleotide werden in der Regel rasch abgebaut und müssen mit speziellen Tricks stabilisiert werden, um den Zellkern zu erreichen und dort lange genug zu persistieren. Die Einführung von Nusinersen hat gezeigt, dass dies nun gelingt. Insofern könnte dies den Beginn einer neuen Ära in der Arzneimitteltherapie markieren.

Neu daran ist vor allem, dass solche Therapien tatsächlich funktionieren. Dies war bei der ersten Generation von RNA-basierten Arzneien kaum der Fall. So startete bereits vor 20 Jahren ein Versuch mit dem ASO Fomivirsen. Es erhielt 1998 die Zulassung gegen Cytomegalovirus-Retinitis bei HIV-Patienten, wurde aber schon 2002 in der EU vom Markt genommen, weil es dieses Krankheitsbild dank neuer HIV-Arzneien praktisch nicht mehr gab.

2008 folgte Mipomersen in den USA als Cholesterinsenker. Das Medikament fischt die Boten-RNA für Apolipoprotein B-100 ab, bekam wegen Leberwerterhöhungen und erhöhtem Fettleber-Risiko aber gleich eine Blackbox-Warnung. Die EMA lehnte eine Zulassung in der EU ab.

Gleichzeitig wurden die ersten iRNA-Medikamente entwickelt. Klinische Studien führten jedoch immer wieder zu Rückschlägen, sodass viele Firmen nach anfänglicher Euphorie ihre RNA-Programme komplett einstellten.

Mit Eteplirsen erhielt 2016 ein weiteres ASO die US-Zulassung, und zwar gegen die Duchenne-Muskeldystrophie. Allerdings generiert die Arznei nur ein partiell funktionsfähiges Protein, die Wirksamkeit ist entsprechend begrenzt. Das zuständige EMA-Komitee sprach sich diesen Mai gegen eine Zulassung aus.

Zweite Generation mit erheblichen Verbesserungen

Die zweite Generation der RNA-Therapeutika hat offenbar viele solcher Probleme überwunden. Neben der iRNA Patisiran hat auch das ASO Inotersen den klinischen Test bei FAP bestanden und bereits eine Zulassungsempfehlung für die EU. Ein weiteres Antisense-Medikament deutete in einer Phase-I/II-Studie eine Wirksamkeit bei Morbus Huntington an.

Über 100 RNA-basierte Wirkstoffe befinden sich zudem in ersten klinischen Studien gegen Alzheimer, Asthma, Diabetes, HIV, erhöhte Cholesterinwerte, diverse Erbkrankheiten und Tumoren.

Noch sind solche Mittel zwar extrem kostspielig, doch das dürfte sich ändern, sobald nicht mehr nur Erb-, sondern auch Volkskrankheiten im Fokus stehen. Das kommende Jahrzehnt könnte daher in der Tat eines der RNA-basierten Therapeutika werden.

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