Hohe Fehlzeiten
Darum sind Pflegekräfte häufiger krank
Pflegekräfte führen seit Jahren viele Fehlzeiten-Statistiken an. Berufsspezifische Reha-Konzepte könnten ihnen helfen, damit ihre Sorge für andere nicht in die eigene Erkrankung führt.
Veröffentlicht:BERLIN/BLIESKASTEL. Die Beschäftigten im Gesundheitswesen nehmen seit Jahren einen Spitzenplatz in den Fehlzeiten-Statistiken ein.
Ihre Krankenstands-Rate liegt laut dem aktuellen Gesundheitsreport der DAK-Gesundheit mittlerweile bei 4,6 Prozent. Die Marke liegt deutlich über jenen 3,3 Prozent bei Banken oder 3,1 Prozent bei Bildung und Kultur.
Blickt man etwas genauer in die Statistiken, fällt auf, dass das Morbiditätsrisiko im Gesundheitswesen extrem unterschiedlich verteilt ist. Die hohen Krankheitsraten betreffen vor allem die Pflegeberufe.
Mit rund einer Millionen Beschäftigten sind sie die größte Berufsgruppe im Gesundheitswesen und auch die gefährdetste.
Häufig leiden sie unter Muskel-Skelett-Erkrankungen sowie psychischen Belastungen - allesamt Symptome, die nach Expertenmeinung eng mit den speziellen Arbeitsbelastungen verknüpft sind.
Was genau macht das Arbeiten in einem Pflegeberuf so stressig? Und warum trifft es Pflegende häufiger und härter als andere Berufsgruppen im Gesundheitswesen?
Starke emotionale Belastung
Reha in Deutschland
Anträge: 1.282.000 im Jahr 1991, 1.670.000 im Jahr 2013
Bewilligungen: 995.000 im Jahr 1991, 1.086.000 im Jahr 2013
Durchgeführte Leistungen: 803.000 im Jahr 1991, 988.000 im Jahr 2013.
"Es gibt viele berufsspezifische Gründe für den hohen Krankenstand", sagt Volker Köllner, Chefarzt der Fachklinik für psychosomatische Medizin in Blieskastel. So entspreche die heutige Arbeitsdichte in der Pflege kaum noch dem eigenen Berufsethos.
Pflegekräfte wollten, so Köllner, für ihre Patienten da sein, seien aber heute öfters und häufiger mit Arbeiten am PC wie etwa dem Dokumentieren beschäftigt. Schicht-, Wochenend- und Nachtdienste führten in Kombination mit Personalabbau und Fachkräftemangel obendrein dazu, dass die Beschäftigten über Wochen hinweg durcharbeiten müssten.
"Zu uns in die Reha kommen Pflegekräfte, die sechs Wochen lang keinen arbeitsfreien Tag hatten. Die Zeit der Erholung von der oft körperlich sehr anstrengenden und psychisch belastenden Arbeit ist dann zu kurz", sagt er.
Kein Wunder, dass manche bewährten Mitarbeiter irgendwann ausbrennen. So wie Dietlinde Forster (Name geändert), die wegen einer Depression und chronischen Kreuzschmerzen eine Rehabilitation antrat. Über Jahre hinweg hatte sich die 57-Jährige geweigert, sich krankschreiben zu lassen.
Ihr Pflichtgefühl gegenüber den Patienten und dem Team stand dem entgegen. Ein heftiger Streit mit ihrer Kollegin und das Einarbeiten in ein neues Dokumentationssystem lösten bei ihr schließlich einen Kollaps aus. Die Krankschreibung war unumgänglich.
Vier Monate lang war sie zu Hause, fühlte sich rundum erschöpft, hatte selbst bei den kleinsten Handgriffen Angst, Fehler zu machen, und fand auch nachts keine Ruhe mehr.
Dann kam sie zu Köllner in die Klinik nach Blieskastel. Seine Einrichtung, die zur MediClin-Gruppe gehört, hat 2012 ein spezielles Konzept zur Reha von Pflegekräften eingeführt. In den berufsspezifischen Gruppen reflektieren die Rehabilitandinnen nicht nur die Belastungen, die zu der Erkrankung führten, sondern auch die Ressourcen, die es zu aktivieren gilt.
"Dass für den persönlichen Kontakt zum Patienten kaum noch Zeit bleibt, löst Schuldgefühle aus. Sich hier abzugrenzen und nur das Mögliche zu leisten, ist enorm schwer und widerspricht den eigenen Wünschen. Kritisch wird es, wenn so ein Verhalten dauerhaft von einem Mitarbeiter erwartet wird", sagt Köllner.
"Ständiger Zwiespalt zwischen Fühlen und Management"
Ähnlich sieht es Professor Andreas Büscher. Der Pflegewissenschaftler von der Hochschule Osnabrück spricht von einem "ständigen Zwiespalt zwischen Fühlen und Management", dem Pflegekräfte ausgesetzt seien.
"Angesichts von Krankheit und Leiden sind Pflegende emotional stark belastet und müssen laufend Entscheidungen treffen, bei denen ethische Aspekte eine Rolle spielen. Das ist für sie vor allem deswegen stressig, weil die zeitlichen Ressourcen knapp sind", sagt er.
Dabei bringen die Pflegekräfte häufig genau das mit, was manch anderen Berufsgruppen fehlt - eine hohe Identifikation mit dem Beruf. "Viele empfinden die Pflege von Kranken, Alten und Sterbenden als ein sinnvolles Tun, und das kann stärkende Wirkung haben", bestätigt Büscher.
Nicht immer aber bieten die hohe Motivation und Identifikation den nötigen Schutz, manchmal verkehre sich das Engagement auch in eine übermäßige Bereitschaft, sich zu verausgaben.
Büscher, der auch wissenschaftlicher Leiter des Deutschen Netzwerks für Qualitätsentwicklung in der Pflege ist, empfiehlt Arbeitgebern, die Belastungen in der Pflege differenziert zu analysieren und ethische, physische, psychische sowie emotionale Aspekte getrennt zu betrachten und zu bearbeiten.
Psychische Belastungen lassen sich auffangen, in dem man neue Arbeitszeitmodelle einführt, die den Ausgleich zwischen Berufs- und Privatleben verbessern.
Eine gute Teamarbeit, wertschätzende Kommunikation, viele Gestaltungsmöglichkeiten sowie die Wertschätzung der eigenen Arbeit und Qualifikation können die Beschäftigten zudem davor bewahren, emotional auszubrennen und ethisch zu versagen.
Besonders effektiv: Tanztherapie
Das Team der Fachklinik in Blieskastel setzt mit seinem pflegespezifischen Reha-Konzept darauf, dass sich die betroffenen Patienten durch den Austausch gegenseitig stärken und entlasten. Das Besondere aber ist die Kombination des berufsspezifischen Ansatzes mit einer intensiven Tanztherapie.
"Das Tanzen wirkt als Erfahrungsraum, in der das Geschehen aus der Therapiegruppe reflektiert werden kann. Die Gruppenleiterinnen sind sowohl psychodynamisch wie verhaltenstherapeutisch ausgebildet. Die berufliche Problematik, unbewusste Konflikte sowie Erfahrungen aus der eigenen Biographie können daher gleichermaßen bearbeitet werden", betont Chefarzt Köllner.
Dietlinde Forster erlebte während der Rehabilitation, dass sie mit ihren Symptomen und Belastungen kein exotischer Einzelfall ist. In der Tanztherapie konnte sie neue, positive Erfahrungen machen: Zum Beispiel sich Raum für die eigenen Bedürfnisse zu nehmen, auf der Tanzbühne neue Schritte zu wagen oder Konflikte darin auszudrücken und danach zu reflektieren.
All das half der 57-Jährigen, wieder Tritt zu fassen.
Am Ende der Reha stellte sie nicht mehr so hohe Anforderungen an sich selbst - der Drang zur Verausgabung und zum Perfektionismus waren gemindert und gleichzeitig hatte sie sich ein umfangreicheres kommunikatives Repertoire angeeignet, um Probleme offensiv bewältigen zu können.