Gastbeitrag
Gesunde Ernährung: Welchen Einfluss haben hochverarbeitete Lebensmittel?
Gesunde Ernährung ist ein Schlüssel zur Eindämmung von Adipositas und Typ-2-Diabetes in Deutschland. Die Evidenz dazu ist spärlich und der Nutri-Score zur Kennzeichnung gesunder Produkte vielfach ungeeignet.
Veröffentlicht:Vor 13 Jahren publizierte der Ernährungsforscher Professor Carlos A. Monteiro von der Universität Sao Paulo in Brasilien eine viel beachtete Abhandlung. Seine These: Bei gesunder Ernährung kommt es nicht auf die Lebensmittel und die Nährstoffe an, sondern auf den Verarbeitungsgrad (Public Health Nutr. 2009; 12: 729). Der von ihm damals geprägte Begriff „ultra-processed food (UPF)“ verbreitete sich schnell. Zudem hat das Team die vierstufige NOVA-Klassifikation entwickelt, um Nahrungsmittel aufgrund ihres Verarbeitungsgrads zu bewerten (World Nutrition 2016; 7: 28):
Stufe 1: kaum verarbeitete Lebensmittel wie frische Früchte, Samen, Wurzeln, Milch, erhitztes Ei, Fleisch.
Stufe 2: verarbeitete Nahrungszutaten wie Pflanzenöle, Butter, Salz und Zucker, die ausschließlich zur Zubereitung verwendet werden.
Stufe 3: verarbeitete Lebensmittel, die hauptsächlich aus Produkten der Stufe 1 bestehen, die aber durch Kochen, Backen, Fermentieren oder Konservieren haltbar gemacht oder im Geschmack verändert wurden.
Stufe 4: hochverarbeitete Nahrungsmittel wie Chips, Wurst oder Cornflakes. Bei der industriellen Herstellung werden kaum noch rohe Lebensmittel, sondern Extrakte verwendet. Diese werden mit Aromen, Emulgatoren und Farbstoffen zu übermäßig geschmacksintensiven Produkten zusammengesetzt.
Hoher UPF-Konsum macht krank
Erhöhter Konsum solcher hochverarbeiteten Lebensmittel begünstigt nach Studiendaten viele Krankheiten. So war in einer aktuellen niederländischen Kohortenstudie ein 10-prozentiger Zuwachs beim UPF-Konsum binnen knapp 3,5 Jahren mit einer um 25 Prozent erhöhten Inzidenz von Typ-2-Diabetes assoziiert (BMC Med. 2022; online 13. Januar) Die Ergebnisse bestätigen die Resultate einer kontrollierten randomisierten Studie mit 20 leicht übergewichtigen Erwachsenen.
Eine Gruppe von ihnen ernährte sich über 14 Tage mit UPF, eine Kontrollgruppe mit unverarbeiteten Lebensmitteln. Alle durften ad libitum essen. Ergebnis: Nach den zwei Wochen nahmen Teilnehmer der UPF-Gruppe um 0,9 kg zu, Teilnehmer der Kontrollgruppe 0,9 kg ab (Gewichtsdifferenz: 1,8 kg!). Fazit der Autoren: Begrenzter UPF-Konsum könnte eine effektive Strategie zur Prävention und Therapie von Adipositas sein (Cell Metab. 2019; 30: 67).
In einem Review mit Meta-Analyse von über 207.000 Teilnehmern ergab sich ein Dosis-abhängiger linearer Zusammenhang von UPF-Konsum und Gesamt- sowie kardiovaskulärer Mortalität (Nutrients. 2021; 14: 174).
Nutri-Score vielfach ungeeignet
Solche Erkenntnisse gehen nicht in den Nutri-Score ein, mit dem in Deutschland gesundheitsfördernde und weniger gesundheitsfördernde Lebensmittel gekennzeichnet werden sollen. Der Score basiert allein auf Nährwertangaben und führt zum Teil zu skurrilen Bewertungen: So wird zum Beispiel Olivenöl mit der zweit schlechtesten Bewertung (D) gekennzeichnet, ein mit Süßstoff versetztes Limonadengetränk erreicht hingegen die zweitbeste Bewertung (B). In Brasilien, Uruguay, Peru und Ecuador nutzt man die wissenschaftlich fundiertere NOVA-Klassifikation.
Gesunde Ernährung ist ein Schlüssel zur Eindämmung von Adipositas und Typ-2-Diabetes in Deutschland. Ein grundsätzliches Problem der Ernährungswissenschaft ist, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse primär aus Beobachtungsstudien stammen, die bekanntlich nur Assoziationen und keine Kausalitäten beschreiben können. Wir brauchen daher dringend mehr Evidenz aus randomisierten Interventionsstudien zu langfristig angelegten Ernährungsmaßnahmen.
Dass solche Studien möglich sind, hat die PREDIMED Forschergruppe in Spanien gezeigt (N Engl J Med. 2018; 378: e34). Darin ließ sich nachweisen, dass im Vergleich zu einer Fett-reduzierten Ernährung eine mediterrane Kost angereichert mit dem ausgerechnet im Nutri-Score so negativ bewerteten Olivenöl und mit Nüssen zu einer Reduktion der kardiovaskulären Ereignisse führt.
Professor Stephan Martin ist Chefarzt für Diabetologie und Direktor des Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums (WDGZ) in Düsseldorf.