INTERVIEW

Hohes Schulranzen-Gewicht allein reicht nicht aus als Erklärung für Rückenschmerzen bei Kindern

NEU-ISENBURG. Das hohe Gewicht von Schulranzen beklagen Orthopäden immer wieder und sehen es als eine Ursache für Rückenschmerzen von Kindern. Ein ganz neues Licht auf die Problematik wirft jedoch eine aktuelle Studie an zwei Schulen in Tübingen. Zwar sind Rückenschmerzen bei Kindern und Jugendlichen verbreitet. Eine Korrelation zum Ranzengewicht ergab sich jedoch nicht, so eine der Studienautoren, Dr. Carmen Ina Leichtle von der Orthopädischen Universitätsklinik in Tübingen im Gespräch mit unserem Mitarbeiter Thomas Meißner.

Veröffentlicht:

Ärzte Zeitung: Frau Dr. Leichtle, der Schulranzen wird bei Kindern und Jugendlichen ja immer wieder als ein Grund für Rückenschmerzen bezeichnet. Vor 50 Jahren waren die Schulranzen wahrscheinlich aber auch nicht viel leichter als heute. Ist wirklich allein die Schultasche die Ursache?

Leichtle: Es gibt viele Studien, in denen die Rückenlast als Problem dargestellt wird. Im allgemeinen wird empfohlen, daß der Schulranzen nicht mehr als zehn Prozent des Körpergewichts wiegen sollte, was auch in der deutschen Schulranzennorm nach DIN 58124 festgelegt ist ...

Ärzte Zeitung: ... ist dieser Wert nicht einfach aus der Luft gegriffen?

Leichtle: Das mag sein. Studien kenne ich dazu nicht. Bei unserer Studie an einem Tübinger Gymnasium und an einer Grundschule fiel jedoch schon auf, daß das Gewicht im Verhältnis zum Körpergewicht allmählich zunimmt. In der Grundschule betrug das Schultaschengewicht durchschnittlich elf Prozent des Körpergewichts, am Gymnasium 13 Prozent. Insgesamt hatten wir 253 Schüler zwischen sechs und 20 Jahren befragt sowie deren Körpergewicht und Schultaschengewicht gemessen. Eine Korrelation zwischen Schulranzengewicht und Wirbelsäulenerkrankungen oder anamnestisch angegebenen Rückenschmerzen konnten wir allerdings nicht feststellen.

Ärzte Zeitung: Ist also alles in Ordnung mit dem Gewicht der Schulranzen?

Leichtle: Gemessen an der Schulranzennorm waren die Schultaschen im Durchschnitt zu schwer, wobei das Gewicht insgesamt eher moderat erhöht war. Dennoch gaben in unserer Studie 68 Prozent der befragten Schüler an, schon einmal Rückenschmerzen gehabt zu haben, davon hat jeder vierte mehr als einmal im Monat Rückenschmerzen. Wir müssen also nach weiteren Ursachen suchen, etwa psychosomatischen Faktoren oder Streßbelastungen. Dem wollen wir jetzt nachgehen.

Ärzte Zeitung: Haben Sie auch die Art der Schultasche beurteilt?

Leichtle: Ja, wir haben unterschieden zwischen klassischem Schulranzen, Rucksack und Tragetaschen. 92 Prozent der Schüler gaben an, die Schultaschen mit zwei Riemen auf dem Rücken zu tragen, ein Ergebnis, das wir selbst ein wenig anzweifeln.

Ärzte Zeitung: Eine fast 70prozentige Rückenschmerzprävalenz ist erschreckend viel ...

Leichtle: Da ist natürlich jeder drin, der irgendwann schon einmal Rückenschmerzen hatte. Wichtig sind die 26 Prozent, die sagen, sie hätten mehr als einmal im Monat Beschwerden. Verglichen mit den Ergebnissen anderer Studien liegen wir damit im Mittelfeld. Bei 13 Prozent der Befragten waren Wirbelsäulenerkrankungen bekannt.

Ärzte Zeitung: Gab es in der Studie Altersunterschiede bei der Schmerzhäufigkeit?

Leichtle: In der Grundschule gaben 47 Prozent der befragten Schüler an, schon einmal Rückenschmerzen gehabt zu haben, im Gymnasium 71 Prozent.

Ärzte Zeitung: Kann man die Diskussion um das Schulranzengewicht jetzt abhaken?

Leichtle: Das würde ich nicht sagen. Es gibt andere Studien, die sehr wohl Korrelationen zwischen dem Tragen schwerer Schulranzen und Rückenschmerzen haben herstellen können, besonders, wenn die Grenze von 20 Prozent des Körpergewichts überschritten wird und auch in Abhängigkeit von der Tragedauer.

Eltern sollten für das Thema sensibilisiert werden. Empfehlenswert ist, den Schulranzen der Kinder regelmäßig auszusortieren und nur mitzunehmen, was wirklich notwendig ist. Optimal wären persönliche Fächer in den Schulen, wo zum Beispiel Schulbücher deponiert werden könnten.

Ärzte Zeitung: Ist in der Diskussion die Fokussierung auf den Schulranzen nicht eine eindimensionale Sicht auf die Problematik Rückenschmerzen bei Kindern und Jugendlichen?

Leichtle: Ja, mit Sicherheit! Man muß sich natürlich ein Gesamtbild von den Kindern und Jugendlichen verschaffen. Stimmt die Anatomie? Gibt es Wirbelsäulendeformitäten? Wie sieht die Muskulatur aus?

Allerdings ist es im Alltag nach wie vor schwer, prognostisch einzuschätzen, wer besonders gefährdet ist, Rückenschmerzen zu bekommen. Die Bewegungsarmut der Kinder und Jugendlichen sowie die vermehrt statischen Belastungen der Wirbelsäule beim Sitzen zum Beispiel vor dem Computer oder Fernseher sind ja bekannt.

Ihr Newsletter zum Thema
Mehr zum Thema
Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Porträt

Felix Michl: Unternehmer, Jurist und Medizinstudent

Lesetipps
Arzt injiziert einem älteren männlichen Patienten in der Klinik eine Influenza-Impfung.

© InsideCreativeHouse / stock.adobe.com

Verbesserter Herzschutz

Influenza-Impfraten erhöhen: So geht’s!