Experten-Streit
Ist ein genereller Antibiotikaschutz nach Zeckenstich sinnvoll?
Es wäre schon verlockend: Gleich nach dem Zeckenstich eine Einmaldosis Antibiotikum, und schon wäre man die Sorge wegen der Borrelien los - vielleicht. Denn Experten und Leitlinienautoren streiten über Sinn und Unsinn einer solchen Maßnahme.
Veröffentlicht:Ein Dauerbrenner unter den Streitthemen in der Medizin ist die Lyme-Borreliose. Nach wie vor ungeklärt ist die Antwort auf die Frage, ob nach jedem Zeckenstich prophylaktisch ein Antibiotikum verordnet werden soll oder ob es sinnvoller ist, mit einer Therapie abzuwarten, bis sich tatsächlich erste Symptome einer Infektion zeigen. Im American Journal of Medicine haben Steven Lascher und David Goldmann den aktuellen Stand der Kontroverse zusammengefasst (Am J Med 2016, online 4. Juli).
US-Leitlinien uneinheitlich
Die "Clinical Practice Guidelines" der amerikanischen Infectious Diseases Society aus dem Jahr 2006 empfehlen nach einem gesicherten Zeckenstich keine routinemäßige Antibiotikaprophylaxe oder serologische Untersuchung, und das mit hoher Evidenz. Treffen allerdings folgende Punkte zu, kippt die Haltung der Experten moderat zugunsten einer Einzeldosis Doxycyclin (Erwachsene 200 mg, Kinder ab acht Jahren 4 mg/kg bis maximal 200 mg): Nämlich dann, wenn es sich bei der Zecke sicher um eine adulte Ixodes scapularis oder eine entsprechende Nymphe handelt, die seit 36 Stunden festsitzt, die Prophylaxe innerhalb von 72 Stunden nach Entfernen der Zecke begonnen werden kann, die lokale Durchseuchungsrate der Zecken mit B. burgdorferi bei 20 Prozent liegt und eine Doxycyclintherapie nicht kontraindiziert ist.
Die Empfehlung der International Lyme and Associated Diseases Society aus dem Jahr 2014 dagegen fällt wesentlich radikaler aus. Hier raten die Experten von der routinemäßigen Einzeldosis Doxycyclin ab und empfehlen, dem Patienten, an dem eine Zecke saugt, unabhängig von der Zeckengröße und der lokalen Durchseuchungssrate, unverzüglich eine 20-tägige Prophylaxe mit 100-200 mg Doxycyclin zweimal täglich anzubieten. Beide Empfehlungen laufen allerdings mit dem Hinweis auf "very low-quality evidence".
Datenlage unübersichtlich
In etlichen placebokontrollierten Studien ist die Gabe eines Antibiotikums zur Prophylaxe der Lyme-Borreliose untersucht worden. Dennoch kamen Lascher und Goldmann bei ihrer Literaturrecherche nicht viel weiter. In dem Zeitraum bis September 2015 fanden sie lediglich eine qualitativ hochwertige Metaanalyse mit Daten aus vier randomisierten kontrollierten Studien. Doch die Einzeluntersuchungen waren uneinheitlich sowohl im Hinblick auf die Studienteilnehmer als auch auf die Art des Antibiotikums sowie dessen Dosierung.
In der größten Studie der gepoolten Analyse wurde mit einer Einzeldosis Doxycyclin ein statistisch signifikanter Erfolg gegenüber Placebo erzielt. Insgesamt ergab sich in der Metaanalyse eine Infektionsrate (Erythema migrans oder extrakutane Symptome) bei Kindern ab drei Jahren und Erwachsenen von 0,2 Prozent nach Antibiotikaprophylaxe versus 2,2 Prozent nach Placebo. Die Autoren errechneten daraus eine Number needed to treat (NNT) von 49.
Was sind die Empfehlungen für Deutschland?
Während der Streit weitergeht, rät das Robert Koch-Institut in Deutschland nach wie vor von einer generellen prophylaktischen Antibiotikagabe nach Zeckenstich ab. Wegen der hohen NNT hält die Deutsche Dermatologische Gesellschaft in ihrer Leitlinie zur "Kutanen Lyme Borreliose" die orale Doxycyclinprophylaxe in Europa nicht für empfehlenswert und die Deutsche Borreliose-Gesellschaft e. V. erwähnt im Kapitel "Prävention" die Antibiotikaprophylaxe nicht.
Interessant könnte künftig die lokale Anwendung eines Azithromycin-Gels sein, das direkt nach dem Zeckenkontakt aufgetragen wird. Tierversuche hierzu waren vielversprechend, Studienergebnisse vom Menschen stehen allerdings noch aus.