Gastroenterologe im Interview
Reizdarm bei Kindern: Was ist zu tun?
Auch Kinder können an einem Reizdarmsyndrom erkranken. Die jetzt aktualisierte S3-Leitlinie widmet erstmals den Kindern ein ganzes Kapitel. Behandelt wird bevorzugt nichtmedikamentös, erklärt Dr. Martin Claßen, Kindergastroenterologe aus Bremen.
Veröffentlicht:Ärzte Zeitung: Herr Dr. Claßen, Bauchschmerzen sind bei Kindern mit jeglichen Krankheiten ein häufiges Symptom. Welche Anzeichen bringen Sie auf die Idee, dass es sich um ein Reizdarmsyndrom, kurz RDS, handeln könnte?
Dr. Martin Claßen: Bei der Anamnese und Untersuchung eines Kindes mit rezidivierenden Bauchschmerzen schauen wir zunächst immer nach Warnzeichen, die für eine organische Problematik sprechen. Dafür haben wir in der Leitlinie einige Alarmsymptome wie ungewollte Gewichtsabnahme, Blut im Stuhl oder starkes Erbrechen aufgeführt, die gegen eine funktionelle Ursache sprechen.
Bei Kindern, die ansonsten unbeeinträchtigt sind, die ihre Schmerzen typischerweise um den Bauchnabel herum angeben, bei denen die Beschwerden meist kurz andauernd sind und wieder verschwinden und manchmal eine Assoziation zum Stuhlgang haben, lässt das an ein RDS denken.
Mit den diagnostischen Rom-IV-Kriterien, die mindestens zwei Monate vor Diagnosestellung erfüllt sein müssen, lässt sich das Syndrom gut beschreiben. Wir Pädiater sprechen dann traditionell auch von funktionellen Bauchschmerzen.
Welchen Begriff nutzen Sie im Gespräch mit Eltern und Patienten?
Funktionelle Bauchschmerzen werden heute nach den Rom-Kriterien als Untergruppe des RDS aufgefasst. „Reizdarm“ ist ein in der Bevölkerung meist bekannterer Begriff. In der Familie finden sich häufig weitere Betroffene. Deshalb spreche ich lieber vom RDS als von funktionellen Bauchschmerzen, zumal wir heute ja auch viel mehr über die Pathophysiologie des RDS wissen, etwa über die Vermehrung der Mastzellen und zur erhöhten Dichte von Schmerzrezeptoren in der Nähe der Mastzellen.
Wir wissen auch, dass bestimmte Infektionen zum RDS führen können. Das spricht dafür, dass das RDS eine organische Komponente hat und nicht ausschließlich eine psychische beziehungsweise zentralnervöse Problematik darstellt.
Es scheint ja Überlappungen des RDS zur abdominellen Migräne oder zur funktionellen Dyspepsie zu geben. Wie raten Sie Kolleginnen und Kollegen damit umzugehen?
Die größte symptomatische Überlappung finden wir eigentlich mit der Kohlenhydrat-Malabsorption. Manche parasitäre Infektionen, zum Beispiel mit Lamblien, verursachen ähnliche Beschwerden. Ein Prozent der Bevölkerung hat eine Zöliakie – sie erfüllen meist ebenfalls die Rom-IV-Kriterien zur Diagnostik eines RDS.
Das ist der Grund dafür, dass wir in der RDS-Leitlinie ein klares Diagnostikprogramm vorschlagen, das andererseits aber knapp gehalten wird: Wir empfehlen einmalig entsprechende Basislaboruntersuchungen, den Auslassversuch von Laktose und Fruktose oder die H2-Atemteste, eine Stuhluntersuchung auf Parasiten und auf fäkales Calprotectin zum Ausschluss einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung.
Unsere Botschaft ist: Bitte keine Maximaldiagnostik, die die Fixierung der Familie auf eine organische Ursache verstärkt. Ich sage schon bei der Diagnostik den Familien, dass es sich um ein RDS handeln könnte, wir aber ein paar andere Erkrankungen ausschließen wollen.
Wenn wir nichts finden, steht die Diagnose RDS fest und wir verzichten auf weitere diagnostische Maßnahmen. Koloskopien oder Magnetresonanztomografien sind so gut wie nie erforderlich.
Das heißt, die Diagnostik muss auch nicht von Spezialisten erfolgen?
Richtig, das kann in jeder Kinder- und Jugendarztpraxis bewältigt werden.
Gibt es im Säuglings- oder Kleinkindalter bestimmte Ereignisse, die zur Entwicklung eines RDS prädisponieren?
Dazu gehören die Kuhmilchallergie im ersten Lebensjahr, Mangelernährung oder Darminfektionen. Wenn Säuglinge nach der Geburt abgesaugt werden müssen oder nach bakteriellen Gastroenteritiden folgt ein erhöhtes Risiko, ein RDS zu entwickeln.
Wir sollten Eltern von Säuglingen keine Angst vor künftigen Problemen machen, aber bei späteren RDS-typischen Beschwerden kann das retrospektiv eine Erklärung sein. Das RDS ist nie ein monokausales Geschehen, wir sprechen von begünstigenden Faktoren.
Gibt es bei Geflüchteten und Migranten seltenere Differenzialdiagnosen, an die man bei diesen Kindern denken muss?
Aus Afrika stammende Menschen haben zu 90 Prozent einen Laktasemangel. Wenn Kinder aus diesen Familien sich dann wie westeuropäische Kinder ernähren – die Klassiker sind Schokolade und Eis – bekommen sie Probleme. Ähnliches gilt für asiatische Kinder.
Zweitens ist die Durchseuchung mit Parasiten höher als bei der einheimischen Bevölkerung. Es lohnt sich, nach Würmern und Lamblien im Stuhl zu schauen. Drittens ist in Großfamilien und bei engen Wohnverhältnissen die Durchseuchung mit Helicobacter pylori höher. Bei Kindern mit Oberbauchschmerzen, Erbrechen und Anämie ist insofern eher mal eine Ösophagogastroduodenoskopie angezeigt. Bei einheimischen Kindern sehen wir Helicobacter-pylori-Infektionen dagegen eher selten.
Die Leitlinie unterscheidet zwischen allgemeinen und spezifischen Behandlungsmaßnahmen beim RDS, die bei Erwachsenen häufig kombiniert werden. Wie sieht das bei Kindern aus?
Das Wichtigste ist, mit den Eltern und Kindern ausführlich und in geeigneter Art und Weise zu sprechen. Nicht sagen: „Ihr Kind hat nichts, machen Sie sich keine Sorgen!“, sondern: „Ihr Kind hat ein RDS, das hat diese und jene Ursachen.“
Hilfreich ist der Hinweis auf die Hypersensitivität mancher Menschen mithilfe von Analogien – manche Menschen sind besonders kitzlig, andere nicht, manche können Lärm ertragen, andere nicht. Das kann man auch für den Darm sagen, es gibt Menschen mit viszeraler Hypersensitivität.
Im Gespräch mit den Eltern erfährt man relativ oft etwas über abgelaufene akute Magen-Darm-Infektionen, die bei der Entstehung eine Rolle gespielt haben könnten. Diese Herleitung hilft den Familien beim Umgang mit der Erkrankung.
Dr. Martin Claßen
- Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin/Pädiatrische Intensivmedizin am Klinikum Bremen-Mitte.
- Koautor der S3-Leitlinie Reizdarmsyndrom (AG Pädiatrische Aspekte).
- Werdegang: Medizinstudium in Düsseldorf, Facharztweiterbildung an der Universitätskinderklinik Essen mit Spezialisierung auf Kindergastroenterologie. Langjährige Tätigkeit am Klinikum Links der Weser, zuletzt als Chefarzt. Seit 2019 Leitung der beiden stadtbremischen pädiatrischen Kliniken (Bremen-Mitte und Links der Weser). Mitarbeit im Vorstand der GPGE, für vier Jahre als erster Vorsitzender. Chefredakteur einer pädiatrischen Zeitschrift und Mitherausgeber eines Lehrbuchs der Pädiatrie.
Was kommt an allgemeinen Maßnahmen noch infrage?
Kognitiv-verhaltenstherapeutische Programme unterstützen beim Umgang mit den Beschwerden. Wir verweisen gerne auf die Videos „Den Schmerz verstehen“ des Deutschen Kinderschmerzzentrums Datteln. Eltern und Kinder können lernen, schmerzverstärkendes Verhalten zu vermeiden und Schmerzen in den Griff zu bekommen, zum Beispiel durch Entspannungstechniken.
Hinzu kommen natürlich Hinweise für einen gesunden Lebensstil: regelmäßiger Tagesablauf, ausreichend Schlaf, Sport, gute Ernährung. Ich frage eigentlich immer, wie es in der Schule läuft, was in der Freizeit unternommen wird. In den allermeisten Fällen brauchen wir nach ausführlicher Beratung dann keine medikamentöse Therapie.
Wird für die Verhaltenstherapie Unterstützung von Kinderpsychologen benötigt?
Meiner Meinung nach handelt es sich um eine primär ärztliche Aufgabe. Das können wir Pädiater leisten. Wird mehr Zeit benötigt oder geht es um das Erlernen von Entspannungstechniken oder um darmzentrierte Hypnose, delegieren wir das an Kinderpsychologinnen.
Wie sieht es mit Ernährungstipps aus?
Bei altersentsprechend ernährten Kindern empfehlen wir keine diätetischen Interventionen. Ernährt sich ein Kind hauptsächlich von Cola und Chips, folgt natürlich die entsprechende Ansprache. Da erleben wir Pädiater leider immer wieder Unglaubliches.
Umgang mit Stress...
...ist ein wichtiger Punkt, Bauchschmerzen bei anstehenden Klassenarbeiten und Ähnliches mehr sind ein Thema, das im verhaltenstherapeutischen Programm bearbeitet wird. Eine wichtige Information für die Eltern ist, nicht immer nach Schmerzen ihres Kindes zu fragen und dem Kind vor allem in diesem Zusammenhang vermehrt Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, sondern die Kinder ernst zu nehmen, sich ihnen zuzuwenden, aber die eigene Besorgnis, die Kinder gut erspüren können, hintenan zu stellen.
Welche Rolle spielen denn die Eltern bei der Prognose des Kindes mit RDS?
Der Erfolg der therapeutischen Maßnahmen hängt auch davon ab, ob wir die Eltern überzeugen können, dass ihr Kind an keiner schwerwiegenden Erkrankung leidet und dass sie sich in positivem Sinne an der Behandlung ihrer Kinder beteiligen.
Manche Eltern projizieren Ängste in Verbindung mit eigenen Krankheitserfahrungen auf ihre Kinder, zum Beispiel, wenn die Mutter oder der Vater an einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung leidet. Deshalb müssen die Eltern aktiv in die Therapie einbezogen werden.
Welches sind die Säulen der spezifischen RDS-Therapie?
Bei einem Obstipations-dominanten RDS setzen wir relativ großzügig Macrogol ein. Anamnestisch ist es nicht immer einfach, Hinweise auf eine Verstopfung zu bekommen. Grundschulkinder können meist nicht sagen, wie oft sie pro Tag zur Toilette gehen und wie der Stuhlgang aussieht.
Manche Kinder bewegen sich wenig und haben eine subklinische Obstipation. Sieht man sonografisch ein weites Rektum, kann man schauen, ob die Beschwerden besser werden, wenn man den Stuhl weicher macht.
Beim RDS vom Diarrhoe-Typ nutzen wir verkapselte Laktobazillen, das einzige Probiotikum mit einigermaßen guter Datenlage. Wir müssen aber sicher bei allen Medikamenten von einem ausgeprägten Placebo-Effekt ausgehen, wenngleich Veränderungen des Darmmikrobioms beim RDS beschrieben sind. Verkapseltes Pfefferminzöl als Spasmolytikum ist eine weitere Option, ich nutze es eher selten.
Kann ein RDS bei Kindern unter zeitlich begrenzter Behandlung vollständig verschwinden?
Ja, es kann verschwinden. Postinfektöse RDS-Beschwerden geben sich unter Umständen nach ein paar Monaten wieder. Eine gute Beratung, das Nehmen von Ängsten und Sorgen und das Verstehen der Zusammenhänge verbessern eindeutig die langfristige Prognose. Richtig ist aber auch, dass das statistische Risiko, im Erwachsenenalter an einem RDS zu leiden, für Kinder mit RDS erhöht ist.
Herr Dr. Claßen, vielen Dank für das Gespräch!
Die Leitlinie „Reizdarmsyndrom“
- Name: Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie des Reizdarmsyndroms.
- Registernummer: 021 – 016
- Klassifikation: S3
- Gültig bis: 30. März 2026
- Federführend: Deutsche Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS), Deutsche Gesellschaft für Neurogastroenterologie und Motilität (DGNM).