Schaden Vollnarkosen kleinen Kindern?
In einer Studie wurden bei Kindern umso häufiger Entwicklungs- und Verhaltensstörungen beobachtet, je öfter sie narkotisiert werden mussten. Allerdings wird bezweifelt, dass solche Störungen als Folge der Narkose auftreten.
Veröffentlicht:NEW YORK. Da die Gehirnentwicklung bei kleinen Kindern noch voll im Gange ist, geht man davon aus, dass ihre Gehirne besonders empfindlich auf neurotoxische Substanzen reagieren.
Tierexperimentelle Studien legen zudem nahe, dass Anästhetika in entsprechenden Dosierungen solche Schäden verursachen können. Die Frage ist, ob auch Vollnarkosen bei kleinen Kindern bleibende Schäden hervorrufen.
Ein Team um Dr. Charles DiMaggio aus New York ist dieser Frage nun in einer ungewöhnlichen retrospektiven Kohortenstudie nachgegangen (Anesth Analg 2011; 113: 1143-1151).
Vergleich mit den Geschwistern
Dabei haben die Anästhesisten Daten von über 152 Zwillingspaaren ausgewertet, bei denen ein Kind im Alter von weniger als drei Jahren eine Vollnarkose erhielt.
Geschaut wurde, ob bei diesen Kindern in den Folgejahren eine Entwicklungs- oder Verhaltensstörung diagnostiziert wurde.
Diese Rate wurde dann mit der ihrer nicht operierten Geschwister sowie mit der von über 5.000 gleich alten Zwillingspaaren verglichen, bei denen keines der Kinder operiert werden musste.
Rate an Störungen steigt mit Zahl der Anästhesien
Das Ergebnis: Auf 1000 Personenjahre kamen 128 Diagnosen in der Gruppe von Zwillingen, bei denen eines der Kinder anästhesiert wurde, aber nur 56 in der Gruppe von Kindern ohne Anästhesie.
Wurden Faktoren wie Alter, Geschlecht und Geburtskomplikationen berücksichtigt, so ergab sich für die Geschwister mit operierten Kindern insgesamt ein 60 Prozent erhöhtes Risiko für Entwicklungs- oder Verhaltensstörungen.
Dabei war die Rate nach einer Anästhesie nur um 10 Prozent erhöht, nach zwei Anästhesien bereits um 190 Prozent und nach drei oder mehr Vollnarkosen um 300 Prozent.
Lässt sich daraus nun schließen, dass die Narkose schädlich für das junge Gehirn ist? Mitnichten.
Kein Unterschied
Denn, wurden die Zwillingspaare genauer analysiert, von denen eines der Kinder operiert wurde, so stellte sich heraus, dass die Diagnose einer Entwicklungs- oder Verhaltensstörung beim nicht operierten Geschwister praktisch genauso häufig gestellt wurde.
Die Forscher sehen daher eher soziogenetische Faktoren als Gründe für die gehäuften Diagnosen in Familien, in denen Kinder früh operiert werden müssen.
Ähnliche Schlussfolgerungen ziehen auch Anästhesisten um Dr. Joss Thomas aus Iowa City in einem Editorial zu der Publikation. So benötigten die meisten der operierten Kinder nur eine einzige Vollnarkose, meist aufgrund einer Inguinalhernie oder Gastroschisis.
Und bei solchen einmaligen Routine-Eingriffen war die Rate von Entwicklungs- und Verhaltensstörungen nicht erhöht.
Mehrere Ops: oft bestehen schwer wiegende Probleme
Sind jedoch mehrere Operationen nötig, dann scheinen schwer wiegendere Probleme vorzuliegen, und die ganze Familie leide unter der Erkrankung des Kindes, was wohl eher die Verhaltensstörungen bedinge.
Zudem seien Kinder mit multiplen Operationen über lange Zeit in ärztlicher Behandlung. Allein die vielen Arztkontakte machten es jedoch wahrscheinlicher, dass bei solchen Kindern - und auch bei ihren Geschwistern - eine entsprechende Diagnose gestellt wird.
Insgesamt, so Thomas, gebe es auch aus anderen Studien keine stichhaltigen Hinweise dafür, dass eine Anästhesie einem ansonsten gesunden Kind schade.