Psychische Störungen

"Wir sind auf den steigenden Bedarf nicht vorbereitet"

Experten beklagen erhebliche Defizite bei der Versorgung von psychisch kranken Patienten. Sie fordern vor allem flexiblere Angebote und eine bessere Prävention.

Von Jürgen Stoschek Veröffentlicht:

AUGSBURG. Psychische Störungen gehören nach Ansicht von Experten zu den größten Herausforderungen für das Gesundheitssystem.

Sowohl bei der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen wie auch bei krankheitsbedingten Fehltagen, bei der Dauer der Krankschreibung, bei der Erwerbsunfähigkeit und bei der Berentung nehmen psychische Erkrankungen hierzulande Spitzenplätze ein, erklärte Professor Jürgen Bengel, Direktor der Abteilung für Rehabilitationspsychologie und Psychotherapie der Universität Freiburg.

"Wir haben einen steigenden Versorgungsbedarf, der nicht auf eine relative Zunahme psychischer Störungen, sondern auf bessere Erkennungsraten, weniger Stigmatisierung, höhere Akzeptanz, bessere Therapieoptionen und eine steigende Inanspruchnahme zurückzuführen ist", sagte Bengel beim 24. Rehabilitationswissenschaftlichen Kolloquium der Deutschen Rentenversicherung in Augsburg.

Unter-, Fehl- und verzögerte Versorgung 

Das Problem, so Bengel: Beim Thema psychische Störungen besteht eine seit Jahren bekannte Unter-, Fehl- und verzögerte Versorgung. "Wir sind auf den steigenden Bedarf nicht vorbereitet", sagte Bengel bei dem dreitägigen Kolloquium, an dem rund 1500 Wissenschaftler, Ärzte, Psychologen und Therapeuten teilnahmen.

Für die Mängel gibt es nach Angaben des Freiburger Wissenschaftlers vielfältige Gründe. Dazu zählen Schnittstellenprobleme zwischen den einzelnen Sektoren wie auch innerhalb der Versorgungsbereiche, wie etwa zwischen der ambulanten hausärztlichen und fachärztlichen Versorgung.

Hinzu kommen lange Wartezeiten sowie eine Unterversorgung bei bestimmten Patientengruppen wie etwa Multimorbide, Migranten, Behinderte oder Menschen mit kognitiven Einschränkungen.

Auch die Zuweisungslogik bei der Erstdiagnose einer psychischen Störung sei nicht immer eindeutig, berichtete Bengel. Das zeige die Vielzahl sich überlappender Diagnosen in den einzelnen Sektoren.

Eine zusätzliche Herausforderung stelle die Zunahme psychischer Probleme bei somatischen Erkrankungen dar, erklärte Bengel. So leiden bis zu 40 Prozent der an einem Tumor erkrankten Patienten auch psychisch.

Bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen wird der Anteil einer psychischen Komorbidität auf bis zu 30 Prozent und bei den muskuloskelettalen Erkrankungen sogar auf bis zu 50 Prozent geschätzt.

In den Reha-Kliniken würden die Komorbiditäten durchaus erkannt, berichtete Bengel. Es stelle sich jedoch die Frage, ob das auch von den Patienten akzeptiert wird, und ob eine Diagnose angesichts der langen Wartezeiten in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung überhaupt sinnvoll ist.

Dabei gebe es in der Wissenschaft zahlreiche Hinweise auf eine psychische Pathogenese bei somatischen Erkrankungen.

Depression erhöht Risiko für Diabetes

So könne eine Depression die Risikofaktoren, die einen Diabetes begünstigen, triggern. "Es sind vor allem die psychosozialen Faktoren, die zu einer Chronifizierung zahlreicher Krankheiten beitragen", meinte Bengel.

Nach Auffassung des Freiburger Wissenschaftlers muss die Versorgung von Patienten mit psychischen Störungen dringend verbessert werden.

Notwendig seien flexiblere Angebote, gestufte Versorgungsmodelle, mehr Prävention und Früherkennung sowie mehr Nachsorge zur Vermeidung von Rückfällen und eine bessere Zusammenarbeit mit den Betrieben.

Zu Beginn des Kolloquiums hatte die Direktorin bei der Deutschen Rentenversicherung Bund, Gundula Roßbach, betont, um eine nachhaltige berufliche Wiedereingliederung psychisch Erkrankter zu erreichen, müssten nicht nur die medizinischen Behandlungen besser koordiniert, sondern auch die Arbeitgeber stärker eingebunden werden.

Deshalb biete die Rentenversicherung betriebsnahe Präventionsprogramme, um Beschäftigte und Arbeitgeber beim Umgang mit psychischen Belastungen zu unterstützen, erklärte Roßbach.

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