Baden-Württemberg
Akademisierung der Therapieberufe kommt im Ländle nur langsam voran
In Baden-Württemberg ist ein Studium bei Physio-, Ergotherapeuten und Logopäden nach wie vor die Ausnahme. Das Land strebt zwar eine Quote von 10 bis 20 Prozent an – doch es fehlen klare Rahmenvorgaben seitens des Bundes.
Veröffentlicht: | aktualisiert:Stuttgart. Die baden-württembergische Landesregierung hält am Ziel des Wissenschaftsrats fest, dass künftig 10 bis 20 Prozent der Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Logopäden eines Jahrgangs ein Studium absolvieren. Diese Teilakademisierung stelle sicher, dass „unterschiedliche Bildungswege für den Zugang zum Beruf möglich bleiben“, heißt es in der Antwort des Wissenschaftsministeriums auf eine Anfrage der SPD-Landtagsfraktion.
Setzt man aber die Zahl der Berufsschüler im ersten Schuljahr ins Verhältnis zu der der Studienanfänger, so fällt die Bilanz im Schuljahr 2020/21 ernüchternd aus: Die Studierendenquote betrug nach Regierungsangaben bei Ergotherapeuten ein Prozent, bei Logopäden sieben und bei Physiotherapeuten neun Prozent (siehe nachfolgende Tabelle).
„Wir erwarten mehr Engagement“
Die SPD zeigt sich unzufrieden mit diesem Stand. „Von der Landesregierung erwarten wir mehr Engagement“, sagt Gabriele Rolland, hochschulpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Landtag. Die aktuellen Zahlen belegten, dass die Landesregierung „noch viel vor sich hat, selbst wenn sie nur die absolute Untergrenze von 10 bis 20 Prozent bei der Akademisierung erreichen will“, sagte Rolland der „Ärzte Zeitung“.
Das Wissenschaftsministerium dagegen verweist auf steigende Mittel im Rahmen der Hochschulfinanzierungs-Vereinbarung: Im laufenden Jahr seien rund eine Million Euro für die Akademisierung der Gesundheitsfachberufe vorgesehen, in den Folgejahren dann jeweils eine Million Euro mehr – 2025 sollen es dann 4,14 Millionen Euro sein. „Damit untermauert die Landesregierung ihr Bekenntnis zu einer weiteren Akademisierung der Gesundheitsfachberufe“, heißt es in der Antwort. Allerdings stehen diese Mittel unter Haushaltsvorbehalt.
Fließen die Mittel tatsächlich, dann sollen laut Land zum Wintersemester 2022/23 die Studiengänge für Physiotherapie und Logopädie um bis zu 70 zusätzliche Studienplätze aufgestockt werden. Ab 2023 soll das Gleiche für Ergotherapie gelten – Zahlen nennt das Ministerium hier nicht.
Kein Schulgeld mehr? Das kostet viel
Die Zahl der Auszubildenden in den drei Gesundheitsfachberufen hat sich im Südwesten seit 2016 tendenziell positiv entwickelt: So besuchten im Schuljahr 2016/17 3919 angehende Physiotherapeuten die Berufsschulen, 2020/21 waren es 4214. 1080 Ergotherapie-Schüler im Schuljahr 2020/21 bedeuteten einen Zuwachs von 67 im Vergleich zu 2016/17. In der Logopädie stieg ihre Zahl von 748 auf 855 (siehe nachfolgende Grafik).
Wollte das Land die Azubis der drei Berufe vom Schulgeld befreien, müsste es jährlich 15 bis 16 Millionen Euro in die Hand nehmen, so Berechnungen des Ministeriums. Doch auch bei den Studienanfängern gäbe es hinsichtlich der sozialen Rahmenbedingungen Luft nach oben: Denn der Anteil der Studienanfänger in staatlich finanzierten Studiengängen betrug 2020 72 Prozent – dies betraf 123 von 172 Jungstudierenden. Die Übrigen müssen für ihr Studium in einer privaten Hochschule teils erhebliche Studiengebühren aufbringen.
Modellstudiengänge in Warteschleife
Belastet wird die Akademisierung der Therapieberufe auch durch die unklaren Perspektiven für die Studierenden. Bereits seit 2009 gibt es Modellstudiengänge – diese Phase hat der Bundesgesetzgeber bereits zweimal verlängert, zuletzt mit dem Gesundheitsversorgungs-Weiterentwicklungs-Gesetz bis Ende 2024.
Was aber Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Logopäden nach wie vor fehlt, sind moderne Berufsgesetze. Deren Novelle ist in der vergangenen Legislaturperiode im Bund-Länder-Streit steckengeblieben. Bislang existiert lediglich ein Grundlagenpapier vom März 2020 (Gesamtkonzept Gesundheitsfachberufe), das aber nicht in allen Punkten politisch mit den Ländern konsentiert wurde.
Wissenschaftsrat
- 2012 hat der Rat in einer Stellungnahme empfohlen, „die mit besonders komplexen und verantwortungsvollen Aufgaben betrauten Angehörigen der Gesundheitsfachberufe künftig bevorzugt an Hochschulen auszubilden“.
- Das Gremium regte den Ausbau von grundständigen Studiengängen „mit dem Ziel eines zur unmittelbaren Tätigkeit am Patienten befähigenden pflege-, therapie- oder hebammenwissenschaftlichen Bachelor-Abschlusses“ an.
- Als Ziel empfahl der Rat vor zehn Jahren eine Akademisierungsquote von 10 bis 20 Prozent. Dies beruhe auf der „Annahme, dass einem typischen multidisziplinären Team aus fünf bis zehn Personen eine höher qualifizierte Fachkraft angehören sollte“.
Zudem warten alle Akteure darauf, ob der Wissenschaftsrat seine Empfehlung aus dem Jahr 2012 zur Teilakademisierung betätigt oder sie verändert. Die Ergebnisse der sogenannten HGQplus-Studie, die Basis für die Evaluation sind, sollen dem Vernehmen nach im Sommer vorliegen.
Diese Studie setzt sich zusammen aus einer bundesweiten Befragung von 150 Hochschulen mit gesundheitsbezogenen Studienangeboten sowie einer Befragung der Krankenhäuser und Rehabilitationseinrichtungen in Deutschland.
Offenbar gibt es zurzeit keine Einigung zwischen Wissenschaftsrat und Ländern, wie die Akademisierungsquote genau berechnet werden soll. „Dass die erste Hürde bei der Akademisierung der Therapieberufe schon eine einheitliche Berechnung der Akademisierungsquote ist, ist traurig“, kommentiert die SPD-Abgeordnete Rolland diese Situation.