Kindergesundheitsstudie
Alarmierende Zahlen bei Magersucht
30 Prozent der Mädchen und 15 Prozent der Jungen zeigen laut der Kindergesundheitsstudie KIGGS ein auffälliges Essverhalten.
Veröffentlicht:DRESDEN. Emma wirkt wie ein unbeschwertes Kind an der Schwelle zum Teenager. Die Zwölfjährige stammt aus einer kleinen Stadt im Osterzgebirge, etwa 50 Kilometer von Dresden entfernt.
Doch neben der Schule, den Freunden, der Familie ist da auch die heimliche Angst vor der Waage. Die gibt jede Woche an, wie es um Emma steht. Das Mädchen leidet seit rund zweieinhalb Jahren an Anorexie.
Zunächst fällt der Gewichtsverlust nicht auf. Doch im Herbst 2012 wird Emmas Mutter klar, dass mit ihrer Tochter etwas nicht stimmt. Die Kinderärztin erkannte die Erkrankung allerdings nicht.
Als Emma nur noch 28 Kilo wog, handelten ihre Eltern und brachten sie als Notfall auf die Spezialstation für Essstörungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Dresdner Uniklinikum. Elf Wochen blieb sie auf der Station, die ersten eineinhalb davon musste sie viel ruhen. Fortan galt für sie ein verhaltenstherapeutisches Programm.
Handy gibt es nur bei Zunahme
"Am Anfang der Behandlung sind unsere Patientinnen aufgrund des starken Untergewichtes oft stark beeinträchtigt. Ständiges Gedankenkreisen um Themen wie Essen und Gewicht sowie ständiger Bewegungsdrang sind oft quälend für die Betroffenen und ihre Familien.
Deswegen helfen wir bei vielen Entscheidungen oder machen auch Vorgaben", erklärt Klinikchef Veit Roessner. Damit sich die Patienten auf die Therapie konzentrieren können, gibt es Grenzen: Ein Handy oder freien Ausgang gibt es nur bei steigendem Gewicht.
Die Mädchen und Jungen sollen mindestens 700 Gramm pro Woche zunehmen, aber nicht mehr als 1,5 Kilo. Dann bekommen sie Schritt für Schritt mehr Selbstverantwortung, etwa bei der Auswahl der Essensportionen. Wenn eine bestimmte Gewichtsgrenze erreicht ist, kommt auch wieder Sport dazu.
Die Unterstützung der Gruppe hilft. "Eine gute Gruppendynamik wirkt manchmal Wunder", sagt Roessner. Nach der Station begann für Emmas Familie eine Gruppentherapie in der Familien-Tagesklinik.Bis zu sechs Familien teilen dort ein ähnliches Schicksal, die Betreuung erfolgt einzeln oder zusammen.
Viele Gespräche werden per Video aufgezeichnet und ausgewertet. Die Teilnehmer können sich auch zu anderen Kindern äußern: "Das bewegt manchmal mehr, als wenn wir hundertmal das Gleiche sagen", betont Roessner. Den Eltern mache er klar, dass sie liebevoll, aber konsequent bleiben müssen: "Ein Kind muss auch mal zehn Minuten am Tisch sitzen bleiben."
Neue Zielmarke: 47 Kilo
Emmas Familie nutzte das Angebot nur kurze Zeit. Weil Emma die Jüngste in der Runde war, hatte ihre Mutter Befürchtungen, im Kontakt mit den Größeren könne sich die Situation noch verschärfen. "Die haben sich nur darüber unterhalten, ob sie sich noch im Schwimmbad im Bikini zeigen können", erinnert sich das Mädchen.
Seit eineinhalb Jahren ist Emma nun bei der Psychotherapeutin Cornelia Zimmermann in Behandlung. Da Emma zuletzt deutlich gewachsen ist, muss das erforderliche Mindestgewicht neu bestimmt werden. Beachtung findet neben Alter und Größe auch die individuelle Gewichtsentwicklung in den Zeiten ohne Essstörung.
Bei 1,62 Meter Körpergröße müsste Emma eigentlich 47 Kilo wiegen — so lautet nun die neue Zielmarke: "Wir sind noch nicht da, wo wir hinwollen. Da du gerade wächst, brauchst du mehr. Dein Körper braucht Kraft", macht Zimmermann dem Mädchen klar.Essstörungen zählten zu den häufigsten Erkrankungen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, sagt Professor Ulrich Voderholzer.
Er leitet mit der Schön Klinik Roseneck am Chiemsee eine der bundesweit größten Einrichtungen zur Behandlung solcher Störungen. "Risikofaktoren sind Ängstlichkeit, Unsicherheit, ein geringes Selbstwertgefühl, starke Leistungsorientierung und Perfektionismus. Auslöser sind oft eine Diät sowie negative Bemerkungen wichtiger Bezugspersonen über Figur und Aussehen."
Auch das Schlankheitsideal in der Gesellschaft spiele eine Rolle.Die Schätzungen, wie viele Menschen in Deutschland betroffen sind, gehen weit auseinander. Professor Ulrich Voderholzer leitet mit der Schön Klinik Roseneck am Chiemsee eine der bundesweit größten Einrichtungen zur Behandlung von Essstörungen; er geht von 200.000 bis 300.000 Magersüchtigen und 500.000 bis 700.000 Betroffenen mit Bulimie aus.
Bei Kindern sei Magersucht und Bulimie noch selten. In der Pubertät folge aber ein starker Anstieg, dann sei ein Jugendlicher von 100 betroffen. Die Kindergesundheitsstudie KIGGS habe ergeben, dass knapp 15 Prozent der Jungen und knapp 30 Prozent der Mädchen ein auffälliges Essverhalten zeigen.
Motiv: Besser sein als andere
Eine der weltweit größten Datensammlungen zu diesem Krankheitsbild ist im Zentrum für Essstörungen in Dresden zu finden. Deren Chef Professor Stefan Ehrlich hat festgestellt, dass in betroffenen Familien häufig überdurchschnittlich viel über Essen oder Diäten gesprochen wird: "Da gibt es Kinder, die nicht so werden wollen wie ihre Eltern.
Oder aber sie möchten bei Diäten die Besten sein." Es gehe auch darum, etwas zu finden, bei dem man besser sei als andere.
Ehrlich zufolge sind weit mehr Mädchen als Jungen betroffen. Deren Anteil liege derzeit bei nur drei Prozent — jedoch mit steigender Tendenz. Und noch einen Trend stellen Experten fest: Die Patienten werden immer jünger. Das hängt in erster Linie mit der früher einsetzenden Pubertät zusammen.
In Dresden werden selbst Drei- und Fünfjährige schon behandelt. Ehrlich berichtet von einem fünfjährigen Mädchen, das nur noch Pudding aß.
Die Barmer Ersatzkasse in Sachsen hat nach Auswertung eigener Daten alarmierende Zahlen veröffentlicht. Demnach verdoppelte sich die Zahl betroffener Teenager von 2009 bis 2014 fast. Selbst im Alter 50 plus gab es eine Zunahme von 20 Prozent. "Auslöser können schwere Lebenskrisen, der veränderte Körper nach einer Geburt, jahrelange Diäten oder die Angst vor dem Älterwerden sein.
In einer jugendfixierten Gesellschaft wächst mit dem Älterwerden die Angst vor dem Verlust von Erfolg, Anerkennung und Konkurrenzfähigkeit", sagt Barmer-Landesgeschäftsführer Paul-Friedrich Loose.
Immer mehr Jugendliche mit Depressionen
Der Bundesfachverband Essstörungen, ein Zusammenschluss von Ärzten, Therapeuten und Beratern, verweist auf eine weitere Entwicklung: Die Zahl der jungen Menschen mit psychischen Erkrankungen wie Depression, Borderline oder Zwangsstörungen wächst. Manchmal treten sie zusammen mit Essstörungen auf.
"Der Druck auf Jugendliche wird immer größer", spricht Verbandschef Andreas Schnebel ein generelles Problem an. An vielen Universitäten wird zu Essstörungen geforscht. In Dresden hat man sich unter anderem auf Schrumpfungen der Hirnrinde konzentriert.
Das Team um Professor Ehrlich fand heraus, dass sich die Dicke der Hirnrinde im akuten Stadium der Magersucht stark verringert - bei vollständiger Therapie meist aber wieder regeneriert.
"Das Ausmaß der Veränderungen am Hirn ist bei einer Alzheimer-Erkrankung beobachtbaren Abbauprozessen sehr ähnlich", beschreibt Ehrlich die Folgen. "Etwa zehn Prozent der Patienten mit einer Essstörung sterben daran oder nehmen sich später das Leben", sagt Ehrlich.
Rund die Hälfte könne man heilen. 40 Prozent der Betroffenen neigten zu Rückfällen - vor allem in Stress- und Krisensituationen. Meist unterscheiden sich Essgestörte im Verhalten. Wer an Bulimie leidet, schämt sich oft und bleibt in der Defensive. Bei Anorexie-Patienten spürt man bisweilen einen gewissen Stolz. Alle sozialen Schichten sind betroffen, auch wenn Magersucht oft als Krankheit der Besserverdiener gilt.(dpa)