Corona-Pandemie
„Cave-Syndrom“: Das Post-COVID-Sozialleben
Die strengen Pandemie-Regeln greifen wegen niedriger SARS-CoV-2-Inzidenzen derzeit nicht. Doch nicht alle Menschen tun sich leicht mit den wiedergewonnen Möglichkeiten. Was ihnen helfen kann.
Veröffentlicht:Berlin. Maske tragen, Abstand halten und soziale Kontakte weitgehend vermeiden: So lauteten monatelang die wichtigsten Gebote zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie. Eine gewisse Vorsicht ist zwar noch immer angebracht, doch dank Lockerungen kann man wieder mehr Dinge machen: Freunde treffen im Biergarten oder gemeinsames Sporttraining zum Beispiel. Nur: Viele Menschen tun sich nach Monaten mehr oder weniger strenger Kontaktarmut noch schwer mit sozialem Miteinander.
Das ist auch kein Wunder, sagen Fachleute. Für das Phänomen gibt es einen Begriff: Cave-Syndrom. Das englische Wort „cave“ bedeutet Höhle. Die Menschen bleiben also lieber in ihrer Höhle, statt rauszugehen. „Das Cave-Syndrom klingt wie so eine Erkrankung“, sagte der Psychiater Claas-Hinrich Lammers vor Wochen im „Deutschlandfunk Kultur“. Doch es sei erst mal eine vollkommen normale Erscheinung.
Der Grund dafür ist eine antrainierte Angst vor dem Virus. Wir haben gelernt, dass Kontakte mit anderen potenziell gefährlich sind, weil wir uns dabei anstecken könnten. Das hatte und hat den Zweck, dass wir vorsichtig sind – damit a) wir nicht krank werden und b) das Coronavirus sich nicht weiter verbreiten kann.
Gemütlich in der Corona-Höhle
Es wäre ein Wunder, sagte Lammers, wenn wir diese antrainierte Angst sofort wieder ablegen könnten. Er spricht mit Blick auf das Cave-Syndrom von einer „Anpassungsverzögerung“. Wobei das Tempo der Anpassung durchaus auch eine Typ-Frage ist.
„Manche können gar nicht genug machen, um all das Verpasste nachzuholen“, sagt Sven Steffes-Holländer, der als Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Heiligenfeld Klinik Berlin arbeitet. „Andere haben es sich in der Corona-Höhle gemütlich gemacht. Für sie hat es einen Preis, wenn sie nun plötzlich wieder in die Öffentlichkeit gehen und mit ihren Unsicherheiten umgehen müssen.“ Das Motiv muss also nicht immer Angst vor Ansteckung sein. Manche Menschen fühlen sich zum Beispiel in der Einsamkeit einfach wohler.
Und so gibt es jene, denen gelingt das Umschalten mühelos, während es andere mehr Kraft kostet oder sie diesen „Höhlenzustand“ gar lieb gewonnen haben. Bestand eine gewisse Vorprägung dafür, kann sich bei manchen Menschen durch die Monate der Beschränkungen jedoch auch eine krankhafte Angst vor Kontakten herausgebildet haben.
Bei vielen Menschen dürfte sich das, was man nun Cave-Syndrom nennt, aber nach und nach legen. So wie das Erlernen der Vorsichtsmaßnahmen und der Ängste vor dem Virus ein Lernprozess war, gilt es nun, wieder zu einer Art Normalität zurückzufinden. „Ängste kann man verlernen“, sagte Psychiater Lammers. Und zwar, indem man sich in die Situationen begibt, die einen ängstigen - und man merkt, dass es nicht so schlimm ist.
Nur: Überstanden ist die Krise ja noch nicht. In Deutschland sind die Zahlen zwar momentan niedrig, in anderen europäischen Ländern aber steigen sie. Die Frage ist also: Wie findet man einen Mittelweg zwischen durchaus noch angebrachter Angst, die uns nicht gänzlich sorglos werden lässt, und einer gewissen neuen Leichtigkeit?
Unsicherheit thematisieren
Fühlt man sich unsicher mit einer Situation, ist es ratsam, das konkret zu thematisieren. „Das verschafft Erleichterung“, sagt Steffes-Holländer. Wer nicht zu der Gruppe jener Menschen gehört, die jetzt alles nachholen wollen und überhaupt keine Schwierigkeiten mit der Anpassung haben, sollte nichts überstürzen, soziale Kontakte weiterhin dosieren und lieber klein anfangen. Steffes-Holländer: „Vielen dürfte es leichter fallen, erst mal jemanden auf einen Spaziergang zu treffen, als in großer Runde ein Spiel der Fußball-Europameisterschaft anzuschauen.“
Das Problem ist: Absagen fällt oft schwer. Man möchte ja niemanden vor dem Kopf stoßen, indem man eine Einladung zum Treffen ausschlägt. Hier helfen Transparenz und Ehrlichkeit. Man sollte klar sagen, dass man noch etwas Zeit braucht, aber sich prinzipiell gerne mit dem anderen treffen würde, rät Steffes-Holländer.
Wer weiterhin Interesse an der freundschaftlichen Beziehung und dem Kontakt hat, sollte das auf jeden Fall auch so signalisieren - und den anderen nicht einfach abbügeln. Der Experte nennt diese Zeit gerade „eine gesellschaftliche Trainingsphase als Übergang zur Normalität“. Das betrifft auch die Rituale im persönlichen Umgang, von denen viele längst nicht mehr so klar und eingeübt sind wie früher: Schüttelt man sich jetzt die Hand? Gibt man sich die Faust? Was ist, wenn der andere auf mich zukommt und mich umarmen will – zur Seite springen?
Soziale Unbeholfenheit
Sowas kann zu Situationskomik führen, aber auch zu Unsicherheiten. Manche Menschen meiden Treffen mit anderen genau deshalb womöglich ganz, wann immer es geht. Weil sie sich unsicher sind, wie sie sich angemessen verhalten sollen. Soziale Unbeholfenheit nennen Fachleute das Phänomen, was einen ähnlichen Effekt hat wie das Cave-Syndrom: dass man lieber für sich bleibt. Steffes-Holländer ist es wichtig, zwischen sozialer Unbeholfenheit und einer Angststörung, wo man völlig in einem Rückzug verharrt, zu unterscheiden. Allerdings sei die soziale Unbeholfenheit ein Faktor, der psychische Erkrankungen begünstigen könne.
Sein Rat lautet: „Es ist immer hilfreich, eine gewisse Selbstdistanz zu haben und auf eigene Fehler und Unsicherheiten wohlwollend und nicht allzu kritisch zu schauen.“ Es geht bei einem Treffen vor allem darum, Interesse zu zeigen: Indem man sein Gegenüber zu Wort kommen lässt, Fragen stellt und somit eine gute Atmosphäre herstellt.
Und wenn man sich nicht sicher ist, wie die Begrüßung nun auszufallen hat, kann man das einfach zum Gesprächseinstieg machen und die Merkwürdigkeit der Situation ansprechen.
Der Weg zurück zum Normalen dauert eben. „Wir wurden alle in die Richtung geprägt, dass menschlicher Kontakt Gefahr bedeutet. Und das können wir nicht automatisiert ablegen“, sagt Steffes-Holländer. Man könne durchaus von Schreckhaftigkeit im Umgang mit anderen sprechen. „Soziale Situationen werden wieder Teil der Normalität, aber das braucht Zeit“, sagt der Mediziner. Die Fähigkeiten zur sozialen Interaktion, also zum Umgang miteinander, können verkümmern – so wie Muskeln. Und so wie bei den Muskeln gilt auch hier: „Das muss man immer wieder üben“, so Steffes-Holländer. „Das ist wie Therapie.“ (dpa)