Gunther von Hagens

Ein Leben für die Plastination

Einsicht – im übertragenen und wörtlichen Sinn – sollen Besucher der „Körperwelten“-Ausstellungen erhalten. Die dort gezeigten präparierten Leichen haben dem Plastinator Gunther von Hagens viel Zuspruch, aber auch massive Kritik eingebracht. Am 10. Januar wird er 75.

Julia Gierz Veröffentlicht:
Mit der Ausstellung „Körperwelten“, in der zahlreiche Plastinate gezeigt werden, ist der Anatom Gunther von Hagens weit über Deutschland hinaus bekannt geworden. In Deutschland ist seine Arbeit nicht unumstritten.

Mit der Ausstellung „Körperwelten“, in der zahlreiche Plastinate gezeigt werden, ist der Anatom Gunther von Hagens weit über Deutschland hinaus bekannt geworden. In Deutschland ist seine Arbeit nicht unumstritten.

© Antonio Pisacreta/dpa

Heidelberg. An diesem Morgen um die Jahreswende ist Gunther von Hagens nicht in bester Verfassung. Die Sprache des Mediziners, die wegen seiner Parkinson-Erkrankung schon undeutlich ist, lässt sich kaum verstehen. Seine zweite Ehefrau Angelina Whalley und Rurik von Hagens (38), eines von drei Kindern aus erster Ehe, dolmetschen.

„Ich habe drei Fehler gemacht“, sagt selbstironisch der schmale große Mann, der am Freitag 75 Jahre alt wird. „Ich habe zu lange familiäre Gemeinschaft geübt, zu wenig geschlafen und Kuchen gegessen“, erzählt von Hagens, der bis vor wenigen Jahren Schlafen für Zeitverschwendung und Ablenkung von der Arbeit hielt.

Heute bremst die Krankheit den Wissenschaftler aus, der 1945 in dem von den Nazis besetzten Polen geboren wurde. Seine Schritte sind klein. Eine Hand zittert. Für den Workaholic ist ein Mittagsschläfchen kein Tabu mehr.

Patentierte Methode

Doch der wegen seiner Ausstellungen von plastinierten Leichen umstrittene Anatom hat sich nicht in den Ruhestand verabschiedet; er feilt weiter an der Plastination, einer Konservierungsmethode, die er hat patentieren lassen. Dabei wird das Körperwasser eines Leichnams durch Aceton – allgemein bekannt als Nagellackentferner – ersetzt.

Dann wird das Präparat in Kunststofflösung eingelegt und in eine Vakuumkammer gestellt. Darin entweicht Aceton und an seiner Stelle dringt der Kunststoff ins Gewebe ein. Zuvor mussten sich Studenten mit Wachsmodellen oder in Formaldehyd eingelegten Präparaten begnügen, um den Körper zu erforschen.

Den Körper oder Teile davon auf diese Weise von innen zu stabilisieren und damit Muskeln, Knochen und innere Organe geruchlos und trocken für den Betrachter sichtbar zu machen, ist von Hagens‘ Lebensaufgabe. Die derzeitige Herausforderung: die Entwicklung neuer Kunststoffe, die bei hoher Stabilität selbst die winzigsten Gefäße im Detail zeigen. Dafür experimentiert er mit Schweinenieren und kehrt damit zu seinen Ursprüngen in Heidelberg zurück.

Plastination erfunden

Am Institut für Anatomie der dortigen Universität erfand er 1977 die Plastination. Sein erstes konserviertes Organ war damals eine Niere. Aus diesen Anfängen entstanden Jahrzehnte später aufsehenerregende Ausstellungen, die „Körperwelten“ mit Ganzkörperplastinaten in unterschiedlichen Situationen, beim Schachspielen, Sport oder beim Sex. Für manche überschreitet er damit eine rote Linie, andere können sich der merkwürdigen Ästhetik der Objekte und ihrem morbiden Charme nicht entziehen.

Bis heute haben nach Angaben der Veranstalter 50 Millionen Menschen die Wanderausstellungen und vier Dauerausstellungen besucht. Die öffentliche Zurschaustellung der menschlichen Präparate entspringt der Idee der „Demokratisierung der Anatomie“, wie von Hagens es nennt. „Tod und Anatomie waren lange ein Privileg etablierter Mediziner, die hinter verschlossenen Türen vor sich hinwerkelten.“

Von Hagens will Anatomie – also die Lehre vom Aufbau des Körpers und dessen Zergliederung für Forschungszwecke – für die Allgemeinheit zugänglich machen. Und ging damit so weit, dass er 2003 in London eine öffentliche Autopsie vornahm. Deren Dokumentation durfte in Deutschland nicht ausgestrahlt werden.

Der Mann mit Hut, der an eine ähnliche Kopfbedeckung des Anatoms Nikolaes Tulp auf einem Gemälde von Rembrandt erinnert, sieht sich als gesundheitlicher Aufklärer. „Der Tod wird in unserer Gesellschaft ausgeblendet. Ich will mit meinen Plastinaten die Vergänglichkeit des Menschen zeigen und darüber informieren, wie man den Körper negativ oder positiv beeinflussen kann.“

Wunderwerk Mensch

Zur Veranschaulichung stellt er eine dunkle Raucherlunge einer hellen Nichtraucherlunge gegenüber. Die Besucher sollen über die Einsicht in das Wunderwerk des menschlichen Körpers zu einer achtsamen Lebensweise finden. Wie der Plastinator selbst, der seine Nervenkrankheit mit einer bestimmten Diät und mit Sport bekämpft.

Er halte sich fit, versichert er – und krempelt einen Ärmel des blauen Hemdes unter der obligatorischen Lederweste hoch. Stolz präsentiert der humorvolle Mann seine beachtliche Armmuskulatur.

Arbeitet trotz einer Parkinson-Erkrankung weiter: Gunther von Hagens.

Arbeitet trotz einer Parkinson-Erkrankung weiter: Gunther von Hagens.

© Schmidt/dpa

Von Hagens ist Überzeugungstäter, hat sich weder von Rechtsstreitigkeiten noch von Kirchenleuten und Politikern, einschüchtern lassen. Die Kritik macht sich insbesondere an der Störung der Totenruhe fest – aus Sicht von Hagens‘ ein nicht mehr zutreffendes Argument: „Die Totenruhe ist ein Begriff aus einer Zeit, als man nicht mit 100-prozentiger Sicherheit wusste, wann ein Körper tot ist. Mit der Totenruhe wollte man vermeiden, dass jemand lebendig begraben wird.“

Heute sei die Totenruhe obsolet. Und was sagt der Mediziner zu dem Vorwurf, er verletze die Menschenwürde? „Man muss zwischen der toten Materie und der Erinnerung an den Verstorbenen unterscheiden“, erläutert er. „Die Achtung ist in den Köpfen der Hinterbliebenen.“

Der Philosoph Franz Josef Wetz sieht den Grund für die – andernorts ausgebliebenen – deutschen Kontroversen über die „Körperwelten“, darin, dass Deutschland eine sehr aufgeregte und sehr prinzipielle Nation sei. Sie tue sich mit neuen ungewohnten Umweltreizen erst einmal schwer. Für aufgeregte und prinzipielle Diskussionen eigneten sich die „Körperwelten“ besonders gut.

Grund: Die Anatomie bewege sich im Grenzbereich zwischen Leben und Tod und werfe Fragen auf, die die Gemüter erhitzten, die von diesen Themenfeldern gleichermaßen angezogen wie abgestoßen würden. Er selbst sei dankbar, dass von Hagens ihm seine eigene Körperlichkeit näher gebracht habe.

Großer Run auf Ausstellungen

Trotz oder gerade wegen dieser Diskussion über den Umgang mit Tod und Toten strömen die Menschen in die „Körperwelten“. Zur ersten Ausstellung 1995 im National Science Museum kamen mehr als 450 000 Besucher in vier Monaten, eine Zahl, die alle Erwartungen sprengte.

Die Mannheimer „Körperwelten“ besuchten 1997/98 in vier Monaten 780 000 Gäste.Von Hagens pendelt zwischen Heidelberg, von wo aus seine 16 Jahre jüngere Frau die Ausstellungen organisiert, und dem brandenburgischen Guben. Im dortigen Plastinarium stellen 46 Mitarbeiter in einer ehemaligen Tuchfabrik vor allem für universitäre Zwecke Plastinate her. „Die sind nicht als Ersatz für die Präparierkurse der Medizinstudenten gedacht, sondern als Ergänzung“, erläutert Whalley, die ebenfalls Medizinerin ist.

Die massenweise Herstellung der Plastinate warf in der Öffentlichkeit Fragen auf, ob es für alle Körperspenden auch zu Lebzeiten die Einwilligung zur Plastination gibt. Das bejaht das Paar und verweist auf die 19 000 Körperspender, die sich notariell hätten registrieren lassen. Von Hagens: „Wir haben eher zu viel als zu wenig Leichen im Keller.“

Gunther von Hagens

  • Geboren am 10. Januar 1945
  • Medizinstudium in Jena und Lübeck
  • Seit 1977 Beschäftigung mit der Plastination
  • 1996 Beginn der Ausstellung Körperwelten

Von Hagens selbst ist noch unentschieden, was mit seiner eigenen Körperspende passieren soll. Klar ist nur, dass er sein Plastinat nicht an einer Stelle ruhen lassen will – analog zu seinem bewegten Leben. Er wuchs als glühender Kommunist in Thüringen auf, wollte aber nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 aus der DDR fliehen, scheiterte und wurde 1970 von der BRD für 40 000 D-Mark aus der Haft freigekauft.

Weitere Stationen seines beruflichen Werdegangs waren Lübeck, Helgoland, Heidelberg, das chinesische Dalian und New York. Von Hagens sieht für sich deshalb zwei Möglichkeiten: Er geht als Ganzkörperplastinat mit einer Wanderausstellung auf Tour oder wird in bis zu 600 Körperscheiben plastiniert in aller Welt verstreut. (dpa)

Ihr Newsletter zum Thema
Mehr zum Thema
Das könnte Sie auch interessieren
Glasglobus und Stethoskop, eingebettet in grünes Laub, als Symbol für Umweltgesundheit und ökologisch-medizinisches Bewusstsein

Klimawandel und Gesundheitswesen

Klimaschutz und Gesundheit: Herausforderungen und Lösungen

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Ein MRT verbraucht viel Energie, auch die Datenspeicherung ist energieintensiv.

© Marijan Murat / dpa / picture alliance

Klimawandel und Gesundheitswesen

Forderungen nach Verhaltensänderungen und Verhältnisprävention

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Ein Dialogforum von Fachleuten aus Gesellschaft, Gesundheitspolitik und Wissenschaft

© Frankfurter Forum für gesellschafts- und gesundheitspolitische Grundsatzfragen e. V.

Das Frankfurter Forum stellt sich vor

Ein Dialogforum von Fachleuten aus Gesellschaft, Gesundheitspolitik und Wissenschaft

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Kommentare
Dr. Antigone Fritz und Hubertus Müller sitzen trocken am PC. Dort zu sehen: ein Bild vom Hochwasser in Erftstadt vor drei Jahren.

© MLP

Gut abgesichert bei Naturkatastrophen

Hochwasser in der Praxis? Ein Fall für die Versicherung!

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: MLP
Protest vor dem Bundestag: Die Aktionsgruppe „NichtGenesen“ positionierte im Juli auf dem Gelände vor dem Reichstagsgebäude Rollstühle und machte darauf aufmerksam, dass es in Deutschland über drei Millionen Menschen gebe, dievon einem Post-COVID-Syndrom oder Post-Vac betroffen sind.

© picture alliance / Panama Pictures | Christoph Hardt

Symposium in Berlin

Post-COVID: Das Rätsel für Ärzte und Forscher

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: vfa und Paul-Martini-Stiftung
Krisenkommunikation war Schwachpunkt in der Pandemie

© HL

Herbstsymposium der Paul-Martini-Stiftung

Krisenkommunikation war Schwachpunkt in der Pandemie

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: vfa und Paul-Martini-Stiftung
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Tag der Privatmedizin

GOÄneu: Reuther und Reinhardt demonstrieren Geschlossenheit

Lesetipps
Arzt injiziert einem älteren männlichen Patienten in der Klinik eine Influenza-Impfung.

© InsideCreativeHouse / stock.adobe.com

Verbesserter Herzschutz

Influenza-Impfraten erhöhen: So geht’s!