Gunther von Hagens
Ein Leben für die Plastination
Einsicht – im übertragenen und wörtlichen Sinn – sollen Besucher der „Körperwelten“-Ausstellungen erhalten. Die dort gezeigten präparierten Leichen haben dem Plastinator Gunther von Hagens viel Zuspruch, aber auch massive Kritik eingebracht. Am 10. Januar wird er 75.
Veröffentlicht:Heidelberg. An diesem Morgen um die Jahreswende ist Gunther von Hagens nicht in bester Verfassung. Die Sprache des Mediziners, die wegen seiner Parkinson-Erkrankung schon undeutlich ist, lässt sich kaum verstehen. Seine zweite Ehefrau Angelina Whalley und Rurik von Hagens (38), eines von drei Kindern aus erster Ehe, dolmetschen.
„Ich habe drei Fehler gemacht“, sagt selbstironisch der schmale große Mann, der am Freitag 75 Jahre alt wird. „Ich habe zu lange familiäre Gemeinschaft geübt, zu wenig geschlafen und Kuchen gegessen“, erzählt von Hagens, der bis vor wenigen Jahren Schlafen für Zeitverschwendung und Ablenkung von der Arbeit hielt.
Heute bremst die Krankheit den Wissenschaftler aus, der 1945 in dem von den Nazis besetzten Polen geboren wurde. Seine Schritte sind klein. Eine Hand zittert. Für den Workaholic ist ein Mittagsschläfchen kein Tabu mehr.
Patentierte Methode
Doch der wegen seiner Ausstellungen von plastinierten Leichen umstrittene Anatom hat sich nicht in den Ruhestand verabschiedet; er feilt weiter an der Plastination, einer Konservierungsmethode, die er hat patentieren lassen. Dabei wird das Körperwasser eines Leichnams durch Aceton – allgemein bekannt als Nagellackentferner – ersetzt.
Dann wird das Präparat in Kunststofflösung eingelegt und in eine Vakuumkammer gestellt. Darin entweicht Aceton und an seiner Stelle dringt der Kunststoff ins Gewebe ein. Zuvor mussten sich Studenten mit Wachsmodellen oder in Formaldehyd eingelegten Präparaten begnügen, um den Körper zu erforschen.
Den Körper oder Teile davon auf diese Weise von innen zu stabilisieren und damit Muskeln, Knochen und innere Organe geruchlos und trocken für den Betrachter sichtbar zu machen, ist von Hagens‘ Lebensaufgabe. Die derzeitige Herausforderung: die Entwicklung neuer Kunststoffe, die bei hoher Stabilität selbst die winzigsten Gefäße im Detail zeigen. Dafür experimentiert er mit Schweinenieren und kehrt damit zu seinen Ursprüngen in Heidelberg zurück.
Plastination erfunden
Am Institut für Anatomie der dortigen Universität erfand er 1977 die Plastination. Sein erstes konserviertes Organ war damals eine Niere. Aus diesen Anfängen entstanden Jahrzehnte später aufsehenerregende Ausstellungen, die „Körperwelten“ mit Ganzkörperplastinaten in unterschiedlichen Situationen, beim Schachspielen, Sport oder beim Sex. Für manche überschreitet er damit eine rote Linie, andere können sich der merkwürdigen Ästhetik der Objekte und ihrem morbiden Charme nicht entziehen.
Bis heute haben nach Angaben der Veranstalter 50 Millionen Menschen die Wanderausstellungen und vier Dauerausstellungen besucht. Die öffentliche Zurschaustellung der menschlichen Präparate entspringt der Idee der „Demokratisierung der Anatomie“, wie von Hagens es nennt. „Tod und Anatomie waren lange ein Privileg etablierter Mediziner, die hinter verschlossenen Türen vor sich hinwerkelten.“
Von Hagens will Anatomie – also die Lehre vom Aufbau des Körpers und dessen Zergliederung für Forschungszwecke – für die Allgemeinheit zugänglich machen. Und ging damit so weit, dass er 2003 in London eine öffentliche Autopsie vornahm. Deren Dokumentation durfte in Deutschland nicht ausgestrahlt werden.
Der Mann mit Hut, der an eine ähnliche Kopfbedeckung des Anatoms Nikolaes Tulp auf einem Gemälde von Rembrandt erinnert, sieht sich als gesundheitlicher Aufklärer. „Der Tod wird in unserer Gesellschaft ausgeblendet. Ich will mit meinen Plastinaten die Vergänglichkeit des Menschen zeigen und darüber informieren, wie man den Körper negativ oder positiv beeinflussen kann.“
Wunderwerk Mensch
Zur Veranschaulichung stellt er eine dunkle Raucherlunge einer hellen Nichtraucherlunge gegenüber. Die Besucher sollen über die Einsicht in das Wunderwerk des menschlichen Körpers zu einer achtsamen Lebensweise finden. Wie der Plastinator selbst, der seine Nervenkrankheit mit einer bestimmten Diät und mit Sport bekämpft.
Er halte sich fit, versichert er – und krempelt einen Ärmel des blauen Hemdes unter der obligatorischen Lederweste hoch. Stolz präsentiert der humorvolle Mann seine beachtliche Armmuskulatur.
Von Hagens ist Überzeugungstäter, hat sich weder von Rechtsstreitigkeiten noch von Kirchenleuten und Politikern, einschüchtern lassen. Die Kritik macht sich insbesondere an der Störung der Totenruhe fest – aus Sicht von Hagens‘ ein nicht mehr zutreffendes Argument: „Die Totenruhe ist ein Begriff aus einer Zeit, als man nicht mit 100-prozentiger Sicherheit wusste, wann ein Körper tot ist. Mit der Totenruhe wollte man vermeiden, dass jemand lebendig begraben wird.“
Heute sei die Totenruhe obsolet. Und was sagt der Mediziner zu dem Vorwurf, er verletze die Menschenwürde? „Man muss zwischen der toten Materie und der Erinnerung an den Verstorbenen unterscheiden“, erläutert er. „Die Achtung ist in den Köpfen der Hinterbliebenen.“
Der Philosoph Franz Josef Wetz sieht den Grund für die – andernorts ausgebliebenen – deutschen Kontroversen über die „Körperwelten“, darin, dass Deutschland eine sehr aufgeregte und sehr prinzipielle Nation sei. Sie tue sich mit neuen ungewohnten Umweltreizen erst einmal schwer. Für aufgeregte und prinzipielle Diskussionen eigneten sich die „Körperwelten“ besonders gut.
Grund: Die Anatomie bewege sich im Grenzbereich zwischen Leben und Tod und werfe Fragen auf, die die Gemüter erhitzten, die von diesen Themenfeldern gleichermaßen angezogen wie abgestoßen würden. Er selbst sei dankbar, dass von Hagens ihm seine eigene Körperlichkeit näher gebracht habe.
Großer Run auf Ausstellungen
Trotz oder gerade wegen dieser Diskussion über den Umgang mit Tod und Toten strömen die Menschen in die „Körperwelten“. Zur ersten Ausstellung 1995 im National Science Museum kamen mehr als 450 000 Besucher in vier Monaten, eine Zahl, die alle Erwartungen sprengte.
Die Mannheimer „Körperwelten“ besuchten 1997/98 in vier Monaten 780 000 Gäste.Von Hagens pendelt zwischen Heidelberg, von wo aus seine 16 Jahre jüngere Frau die Ausstellungen organisiert, und dem brandenburgischen Guben. Im dortigen Plastinarium stellen 46 Mitarbeiter in einer ehemaligen Tuchfabrik vor allem für universitäre Zwecke Plastinate her. „Die sind nicht als Ersatz für die Präparierkurse der Medizinstudenten gedacht, sondern als Ergänzung“, erläutert Whalley, die ebenfalls Medizinerin ist.
Die massenweise Herstellung der Plastinate warf in der Öffentlichkeit Fragen auf, ob es für alle Körperspenden auch zu Lebzeiten die Einwilligung zur Plastination gibt. Das bejaht das Paar und verweist auf die 19 000 Körperspender, die sich notariell hätten registrieren lassen. Von Hagens: „Wir haben eher zu viel als zu wenig Leichen im Keller.“
Gunther von Hagens
- Geboren am 10. Januar 1945
- Medizinstudium in Jena und Lübeck
- Seit 1977 Beschäftigung mit der Plastination
- 1996 Beginn der Ausstellung Körperwelten
Von Hagens selbst ist noch unentschieden, was mit seiner eigenen Körperspende passieren soll. Klar ist nur, dass er sein Plastinat nicht an einer Stelle ruhen lassen will – analog zu seinem bewegten Leben. Er wuchs als glühender Kommunist in Thüringen auf, wollte aber nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 aus der DDR fliehen, scheiterte und wurde 1970 von der BRD für 40 000 D-Mark aus der Haft freigekauft.
Weitere Stationen seines beruflichen Werdegangs waren Lübeck, Helgoland, Heidelberg, das chinesische Dalian und New York. Von Hagens sieht für sich deshalb zwei Möglichkeiten: Er geht als Ganzkörperplastinat mit einer Wanderausstellung auf Tour oder wird in bis zu 600 Körperscheiben plastiniert in aller Welt verstreut. (dpa)