Kinderhospiz
"Hier wird vor allem gelebt"
Todkranke Kinder erleben im Kinderhospiz Löwenherz in Niedersachsen liebevolle Betreuung, Eltern erfahren Entlastung. Und die Ärzte haben eine Möglichkeit, die sie andernorts kaum noch kennen: Zeit. Ein Vorortbesuch.
Veröffentlicht:SYKE. Amelie krümmt sich unter ihrer rot gemusterten Bettdecke. Die Vierjährige quietscht und brummt vergnügt vor sich hin. Ihr feuriger Haarschopf leuchtet so kräftig, wie die Vorhänge im Krankenzimmer, die den Raum in orangefarbenes Licht tauchen.
Ein dünner Schlauch schlängelt sich durch ihr Gitterbettchen, das eine Ende führt unter ein großes Pflaster am Bauch, das andere in den Behälter mit der Astronautennahrung. Eine PEG-Sonde. Medikamente stapeln sich auf einem Nebentischchen. Stofftiere. Spielzeug.
"Amelie ist unser ganzer Stolz"
Amelie ist schwer mehrfach behindert. Sie kann nicht krabbeln, nicht gehen, nicht sprechen, und was sie von all dem aufnehmen kann, was um sie herum geschieht, weiß niemand so genau.
Aber heute kichert und brummelt sie. "Unser ganzer Stolz!", sagt Mutter Antje Veenter und krault ihre Tochter im Nacken.
Auf der anderen Seite des Bettchens steht Kinderarzt Mario Scheer. Er reibt den metallenen Kopf des Stethoskops warm - "damit Du keinen Schreck kriegst!" - und schiebt ihn langsam unter Amelies Hemd. Amelie wird untersucht.
Zurzeit wohnt die Familie, die Eltern Antje und Tobias Veenter mit Amelie, im Kinderhospiz Löwenherz, einer Einrichtung in Syke (Niedersachsen) für sterbenskranke Kinder und ihre Familien.
Eltern und Kind können sich von dem schweren Alltag, der sie zu Hause im Griff hat, erholen. Im oberen Stockwerk liegen die Wohnungen für die Eltern und Geschwisterkinder, unten wohnen die jungen Patienten.
"Entlastungspflege" nennt man das, was Kinder und Eltern hier genießen.
Deutschlandweit einmaliges Modell
Seit Jahren arbeitet das Kinderhospiz südwestlich von Bremen mit dem Klinikum Links der Weser in Bremen zusammen.
Regelmäßig kommen zwei Kinderärzte herüber und versorgen die jungen Patienten in Syke: Julia Friedel und Mario Scheer füllen hier im Wechsel seit drei Jahren eine ganze Arztstelle aus. Bald soll eine dritte Kollegin dazu kommen.
"Dieses Modell ist einmalig in Deutschland", sagt Gaby Letzing, die Geschäftsführerin des Kinderhospizes. Das Haus läuft bei der KV Niedersachsen als Ermächtigungsambulanz.
"Allerdings können wir hier nur drei bis vier Ziffern tatsächlich abrechnen", sagt Letzing, "das sind bei 80 Patienten im Quartal nur ein Bruchteil des tatsächlichen Versorgungsgeschehens". Das bedeutet, dass rund 50 Prozent der Gesamtkosten über Spenden eingeworben werden müssen.
"Uns ging es mit dieser Konstruktion vor allem darum, auch verordnen zu können", erklärt Letzing. Zuvor waren es Hausärzte aus der Gegend, die die jungen Patienten im Hospiz mitversorgt hatten.
"Klar, dass die Hausärzte es auch nicht gut fanden, wenn sie die zusätzlichen Patienten im Hospiz über ihr Budget rezeptieren mussten", so Letzing. Das Löwenherz-Modell funktioniert. Jedenfalls muss das Haus offenbar nicht darben.
Erst im vergangenen Jahr hat man angebaut - ein Jugendhospiz inklusive großer, heller Zimmer, einem kleinen Bewegungsbad sogar und Räumen für die Physiotherapie.
Der ganze Komplex ist jetzt, Ende September, umgeben von einem herbstlich blühenden Garten. Kurz: Das Haus ist eine Perle.
Ein "Löwenherz" hätte jeder gerne
In der Eingangshalle des Hospizes flattern eine Menge Schmetterlinge unter der Decke. Die bunt bemalten und beklebten papierenen Falter stehen für die kleinen Bewohner des Hauses und vielleicht dafür, wie sie sich entwickeln - von der Raupe zum bunten Flieger.
Besser kann man vielleicht nicht darstellen, was den Erfolg des Hospizes ausmacht. Denn wer wollte nicht am liebsten selbst seinen Panzer abwerfen und frei sein? Gerne identifizieren sich die Unterstützer mit der Arbeit hier und ihrer Absicht.
Anders gesagt: Das "Löwenherz" hat Erfolg, weil jeder gerne eines hätte. In diesem Hospiz wird vor allem gelebt, betonen die Mitarbeiterinnen immer wieder. Dies sei kein Sterbehaus.
Tatsächlich hört man aus dem großen verglasten Gemeinschaftsraum lebhaftes Gespräch und lautes Lachen. Hier sitzen die Eltern und Geschwisterkinder zusammen, während sich die Pflegerinnen um ihre schwer kranken Kinder kümmern.
Man ahnt, wie belastend dagegen ihr Alltag zu Hause sein muss.
Es ist Mittagszeit, Mario Scheer und Julia Friedel setzen sich dazu. "Besonders die Nähe zu den Familien ist natürlich etwas, was man im Krankenhaus nicht so sehr hat", hatte Scheer am Vormittag berichtet.
Mehr noch. Die Ärzte können hier lange und ausführlich mit den Eltern sprechen. "Auch wenn wir alle Patienten an einem Tag sehen, können wir uns für jeden eine Stunde Zeit nehmen. Daran ist im Krankenhaus überhaupt nicht zu denken", berichtet Scheer.
In der Klinik seien die Ärzte mehr oder weniger gezwungen, schnell zu entscheiden und zu sagen, wo es langgeht, so Geschäftsführerin Gaby Letzing.
"Viele Eltern sind deshalb geprägt von Bevormundung in anderen Strukturen. Aber hier merken wir, welche Fachkompetenz die Eltern haben, wenn die Ärzte sich Zeit für sie und ihre Situation nehmen."
Schmerzbehandlung, Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Krampfanfälle bei den Patienten - all das müssen die Kinderärzte behandeln.
Aber viel mehr noch geht es um die psychosozialen Krisen der Familien und die Beratung am Lebensende der Kinder. "80 Prozent unserer Tätigkeit besteht darin, zu sprechen und noch einmal zu sprechen", sagt Scheer.
"Denn für Kinder gibt es zum Beispiel kein Patiententestament."
"Das Sterben meines Kindes war gut"
Darum nehmen wir uns die Zeit für die Eltern, die den Arzt bitten, "alles" für die schon sterbenden Kinder zu tun. "Wenn wir dieses ‘Alles' dann in Ruhe betrachten und besprechen, dann zeigt sich ein anderes Bild: Dann ist weniger oft mehr", sagt Scheer.
Er hat vor seinem Medizinstudium eine Pflegeausbildung gemacht. Deshalb weiß er: "Nichts mehr tun zu können, das gibt es auch nicht." Und wenn schließlich eines der Kinder im Kinderhospiz stirbt, dann können die Eltern wenigstens sagen: "Das Sterben meines Kindes war gut", sagt Letzing.
Für Antje und Tobias Veenter ist heute ein besonderer Tag. Amelies Eltern haben endlich erfahren, woran ihre Tochter eigentlich leidet. Die gute Nachricht ist, dass man es nicht wirklich weiß.
"Sie hat einen Gendefekt, der einfach so, spontan aufgetreten ist", erklärt Scheer. Ihre Krankheit hat keinen Namen. Das Ergebnis der genetischen Untersuchung ist ein Glück für die Eltern.
"Denn es bedeutet, dass wir gesund sind", sagt Antje Veenter. "Wir können also auch noch ein gesundes Kind bekommen!"
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