SARS-CoV-2

Menschen mit Behinderungen: „Ich bin seit letztem März in Selbstisolation“

Seit Monaten isolieren sich viele Menschen mit Behinderung zu Hause. Die Angst vor einer Corona-Ansteckung ist groß; manche würde gerne schneller geimpft werden. Das Sozialministerium wehrt sich aber vor Anschuldigungen, diese Menschen zu vergessen.

Von David Hutzler Veröffentlicht:
Menschen mit Behinderungen leiden zunehmend unter ihrer Corona-bedingten Einsamkeit. Selbstisolation ist oft ihr einziger Schutz.

Menschen mit Behinderungen leiden zunehmend unter ihrer Corona-bedingten Einsamkeit. Selbstisolation ist oft ihr einziger Schutz.

© dpa

Berlin. In der Diskussion rund um Corona ist gefühlt schon die Lage jeder Gruppe beleuchtet worden. Den Modelleisenbahnbauern soll es oft vergleichsweise gut ergehen, die Fitnessstudiobetreiber leiden, bei den Lehrern ist alles kompliziert. Doch wenn es um die Belange von rund acht Millionen schwerbehinderten Menschen in Deutschland geht, taucht ein Wort immer wieder auf: vergessen.

Besonders sichtbar wird das in der aktuellen Diskussion rund um die Corona-Impfungen. Lehrkräfte und Erzieherinnen und Erzieher etwa können nun geimpft werden. Auch Polizisten werden in einigen Bundesländern bereits vorgezogen. Menschen mit Behinderung kommen hingegen nur mit bestimmten Diagnosen oder nach einer Einzelfallentscheidung an eine frühere Impfung. Und das, obwohl für viele von ihnen eine COVID-19-Erkrankung nach Angaben von Verbänden und Betroffenen schwerwiegende Folgen haben könnte.

Monatelange Selbstisolation

Der Inklusionsaktivist Raul Krauthausen lebt mit Glasknochen und ist kleinwüchsig. „Ich bin seit letztem März in Selbstisolation“, erzählt er. „Ich gehe nur noch zum Spazieren raus, aber treffe mich mit niemanden.“ Weil er ein kleines Lungenvolumen habe, wolle er auf keinen Fall eine Infektion mit dem Coronavirus riskieren. Ein absehbarer Ausweg aus der aktuellen Situation sei das Impfen – doch einen Impftermin habe er trotz Bemühungen noch nicht bekommen.

Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel (SPD), erzählt von etlichen Betroffenen, die sich seit Monaten zu Hause isolieren, weil sie um ihr erhöhtes Risiko wissen: „Das ist eine große psychische Belastung für die Menschen“, sagt er. Ähnliches hört man von Sozialverbänden. Krauthausen formuliert es etwas drastischer: „Die Nerven liegen blank“. Er erzählt von fehlenden Desinfektionsmitteln zu Beginn der Pandemie. Von fehlenden Testmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung und deren Betreuern vergangenes Jahr. Von mangelnder Berücksichtigung bei den Impfplänen. Sein Fazit: „Da könnte man schon fast von Boshaftigkeit ausgehen, wenn das wiederholt vergessen wird.“

Vergessen oder Datenlücke?

Den Vorwurf, die Betroffenen vergessen zu haben, will die Bundesregierung nicht auf sich sitzen lassen. Das Sozialministerium betont, ihre Belange im Blick zu haben. Man sei im ständigen Austausch mit Verbänden und Organisationen. Es gebe etwa finanzielle Unterstützungen bei Tests bei stationärer und ambulanter Betreuung. Außerdem sollen zeitnah Schutzmasken aus Bundesbeständen an Angebote der Behindertenhilfe versendet werden. Und bei der Ausarbeitung der Impfverordnungen verweist das Gesundheitsministerium auf die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO).

Nur: In den Empfehlungen werden die Personengruppen abgebildet, für die es genügend wissenschaftliche Daten zur Ansteckung und zum Krankheitsverlauf gibt. Studien gab es etwa zu Menschen mit Trisomie 21 und auch zu Menschen mit geistigen Behinderungen, wie aus den STIKO-Empfehlungen hervorgeht. Sie sind in die zweithöchste Prioritätsstufe aufgenommen worden. Menschen mit seltenen Diagnosen sollen laut Impfverordnung zwar mit Attest auch vorrangig zum Zug kommen können – in der Praxis haben es Querschnittsgelähmte und viele andere Betroffene aber schwer, das durchzusetzen. Krauthausen meint: „Diese Menschen jetzt dafür zu bestrafen, dass sie so wenige sind, ist schwierig.“ Insbesondere Menschen, die selbstbestimmt zu Hause leben, und nicht in einer Einrichtung der großen Wohlfahrtsverbände, hätten keine Lobby.

Harte Folgen für die Betroffenen

Allgemein schränkt die Corona-Pandemie die Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe stark ein, wie die Geschäftsführerin des Bundesverbands für körper- und mehrfachbehinderte Menschen (bvkm), Janina Jänisch, erzählt. Therapien könnten nicht fortgeführt werden, Einrichtungen seien geschlossen, die Mobilität sei eingeschränkt. „Und viele Menschen mit Behinderung erleben die Situation als bedrohlich und reagieren mit Ängsten oder sogar Depressionen.“ Die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele, fügt hinzu: „Es wird viel zu wenig bedacht, dass sie alle wichtigen Informationen rund um die Pandemie in barrierefreier Form brauchen, weil sie diese sonst einfach nicht hören, sehen oder verstehen können.“

Und die Impfsituation verstärkt die Probleme. Es gebe beispielsweise Kinder, die mit lebensverkürzenden Erkrankungen leben, sagt Dusel. Für die gebe es aber keinen Impfstoff – und laut Impfverordnung könnten derzeit nur zwei Kontaktpersonen geimpft werden. „Das ist fernab jeder Lebensrealität in den Familien und entspricht auch nicht der STIKO-Empfehlung. Der Personenkreis muss erweitert werden.“ Für Personen mit Assistenzbedarf stelle sich auch die praktische Frage: „Was ist, wenn meine Assistenz infiziert ist?“, sagt Krauthausen.

Das kann langfristige gesellschaftliche Folgen haben. Krauthausen erzählt von dutzenden Nachrichten am Tag, die er von Betroffenen erhalte, „die inzwischen jedem misstrauen“. Diese Menschen blickten mit vollkommenen Unverständnis auf die aktuellen Lockerungsdebatten, während sie immer noch auf ein Impfangebot warten müssten. Dusel sagt: „Wenn die Betroffenen sich vom Sozialstaat verlassen fühlen, dann haben wir ein Demokratieproblem.“

Problem Krankenhausbehandlung

Verlassen vom Sozialstaat könnten sich nach Dusels Einschätzung auch diejenigen fühlen, die zur Behandlung ins Krankenhaus müssen. Das Problem: Insbesondere Heimbewohner, die ihre Assistenzkräfte mitnehmen wollen, bekommen das nicht finanziert. Das Thema sei seit Jahren bekannt, sagt Dusel. Dass es immer noch keine Lösung gibt, sei „kein Ruhmesblatt der Bundesregierung“. Gerade in der Pandemie verschärfe sich die Problematik, wenn Klinikpersonal am Limit Menschen mit Behinderungen betreuen müsste – wofür es gar nicht ausgebildet sei. „Alle Menschen haben das Recht, gut versorgt zu werden“, betont Dusel. Seine Hoffnung ist, dass es noch in dieser Legislaturperiode eine Lösung gibt.

Lockdown, keine spontanen Treffen, ein eingegrenzter Bewegungsradius – diese Erfahrung machen gerade alle Menschen. „Diese Lockdown-Erfahrung haben behinderte Menschen schon immer“, sagt Krauthausen. Als Gesellschaft könne man von Menschen mit Behinderung also gerade viel darüber lernen, wie mit solchen Situationen umzugehen ist. „Menschen mit Behinderung könnten nicht immer nur als Opfer gesehen werden – sondern als Coaches.“ (dpa)

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