Flüchtlinge
Wenn Ärzte im Baucontainer arbeiten
Zwischen der Erstuntersuchung von Flüchtlingen und ihrer freien Arztwahl entsteht oft eine Lücke in der Versorgung. Der Münchener Verein Refudocs schließt diese - mithilfe von 80 engagierten Ärzten.
Veröffentlicht:MÜNCHEN. In dem zu einer Praxis umgebauten Baucontainer sind die verstauchten Zehen und blauen Fußnägel an einem kalten Wintertag das kleinste Problem. "You need socks", sagt der Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin Mathias Wendeborn eindringlich und deutet auf die nackten Füße vor sich.
Auf der Behandlungsliege sitzt ein junger Afghane: 13, 14, vielleicht 15 Jahre alt, die Kapuze tief über die Augen gezogen. Barfuß, nur mit Badelatschen an den Füßen, ist er ins Behandlungszimmer gehumpelt gekommen.
"Socken!", wiederholt der Kinder- und Jugendmediziner und kippt eine Pappkiste aus. Bestickte Babysöckchen, Wollstrümpfe und Ringelsocken kullern auf den Boden. Wendeborn wühlt sich durch den Sockenberg. Vergeblich. Die Socken sind einfach zu klein für den Jugendlichen. Kurzerhand greift der Arzt nach einer Mullbinde und wickelt den Fuß ein.
Fünf Tage die Woche im Einsatz
Wendeborn ist ein zupackender Mann, einer, der aus wenig viel macht, der improvisiert und nach Lösungen sucht, auch abseits gängiger Wege. Vor eineinhalb Jahren hat er in München die Refudocs gegründet, einen Verein, der sich um die medizinische Versorgung von Flüchtlingen kümmert. Auf dem Gelände der Bayernkaserne, einer der größten Flüchtlingsunterkünfte in München, hat er in Containern eine ambulante Krankenstation aufgebaut.
Eine gynäkologische Praxis gibt es hier, ebenso wie eine Isolierstation, in anderen Containern sitzt ein Allgemeinmediziner, ein Psychiater und eben der Kinderarzt Wendeborn. In Wechselschichten sind 80 Ärzte im Einsatz, an fünf Tagen in der Woche. Bezahlt werden die Ärzte von der Regierung von Oberbayern.
"Wir schließen die Lücke zwischen der Erstuntersuchung und der freien Arztwahl", sagt Wendeborn, der eine Kinderarztpraxis in München hat. Flüchtlinge werden zwar bei ihrer Ankunft in Deutschland medizinisch auf infektiöse oder ansteckende Erkrankungen untersucht. Das sieht das Asylbewerberverfahrensgesetz (§62) vor. Danach ist der Zugang zu medizinischer Versorgung aber stark eingeschränkt.
In die Praxis der Refudocs kann hingegen jeder Flüchtling kommen - egal wie lange er in Deutschland ist und mit welcher Erkrankung. Der Bedarf ist groß. Monatlich, rechnet Wendeborn hoch, behandeln er und seine Kollegen rund 2000 Patienten. Auch an diesem Tag ist das Wartezimmer voll, rund 30 Menschen sind in die offene Sprechstunde zwischen 14 und 16 Uhr gekommen. Kinder, Schwangere, Frauen mit Kopftuch, Männer im Rollstuhl.
Übersetzer für Dari, Paschtu und Farsi
Auf einer Tafel steht in krakeliger Handschrift: "Dari, Paschtu, Farsi". Es sind die Sprachen, für die an diesem Nachmittag Dolmetscher zur Verfügung stehen. Die Übersetzer begleiten die Patienten in die Behandlungszimmer und vermitteln zwischen Arzt und Patient. Auch das ist eine Besonderheit.
Im Wartebereich hängen - in mehreren Sprachen - Informationszettel zu Windpocken und Pilzvergiftungen. "Die Migrantenmedizin unterscheidet sich nicht sehr von der Hausarztmedizin", sagt Wendeborn. Dann ergänzt er allerdings: "Es gibt aber auch Fälle, die mit der Flucht zu tun haben: Fußverletzungen, schlecht behandelte Knochenbrüche oder Schussverletzungen, Brandwunden, die auf der Flucht unzureichend versorgt wurden."
"Nicht nur Spritze und Skalpell"
Inzwischen ist eine kurdische Familie mit ihrem zweijährigen Sohn bei Wendeborn im Sprechzimmer. Mohammed Jussuf, wie das Kleinkind heißt, dreht sich auf der Wickelauflage. Bereits zweimal ist der Junge mit Spina bifida operiert worden - einmal in der Türkei, einmal in Rosenheim. Jetzt steht wegen einer schlecht verheilten Fraktur an einem der gelähmten Beine eine dritte Operation an.
"Die Behandlung geht über die Kostenübernahmestelle und muss genehmigt werden", erklärt der Arzt den Eltern. Für Wendeborn bedeutet das vor allem Bürokratie. Er schreibt ein Attest, greift zum Telefon, füllt Bögen aus. Nebenbei erklärt er den Eltern, wie sie die Beine des Jungen massieren sollen und welchen Katheter ihr Sohn braucht. "Medizin ist nicht nur Spritze und Skalpell", sagt der Arzt über seine Arbeit.