Porträt

Zwei Jahrzehnte mit Heroin-Substitution

Er war süchtig, lag am Boden, sah keine Perspektive mehr und ging in eine substituierende Praxis: Seit 20 Jahren gelingt Andreas Canal mit Hilfe von Ersatzstoffen ein Leben ohne Heroin.

Von Dirk Schnack Veröffentlicht:
Andreas Canal engagiert sich heute in der Selbsthilfe.

Andreas Canal engagiert sich heute in der Selbsthilfe. Ohne Substitution wäre das wohl schwer möglich gewesen.

© Dirk Schnack

Kiel. Substituierende Ärzte werden in vielen Regionen gesucht. Wie wichtig diese Arbeit ist, zeigt das Leben von Andreas Canal. Ihm ermöglichen Ersatzstoffe wie Methadon seit 20 Jahren ein Leben ohne Heroin. Ohne die Substitution hätte ihn Heroin nach eigener Einschätzung wohl erst vor den Richter, dann ins Gefängnis und möglicherweise auf das Sterbebett geführt.

Drogen begleiten Canal durch sein Leben. Als Siebenjähriger griff er erstmals zur Zigarette, mit 13 fing er an zu trinken. Alkohol half dem Jugendlichen zunächst, mit dem Alleinsein zu Recht zu kommen. Seiner Umwelt fiel nicht auf, dass er unter Angststörungen und Depressionen litt. Ein zunehmend maßloserer Konsum half ihm bei der Verdrängung, erschwerte dem verschlossenen jungen Mann aber den Anschluss in der Gesellschaft.

Heroin-Konsum auch aus Neugier

Als Ausweg aus dieser Situation, aber auch aus Neugier, nahm er mit 26 Jahren erstmals Heroin. „Ich habe mir davon versprochen, dass es mir gelingt, durch den Konsum meine psychischen Probleme in den Griff zu bekommen“, sagt Canal. Dies gelang allerdings nur kurzfristig. Das Gefühl des ersten Rauschs blieb präsent, er kann ihn noch 25 Jahre später schildern: „Das erste Mal hat mich umgehauen. Mein Leben wechselte von schwarz-weiß zu bunt. Plötzlich behinderte mich die Angststörung nicht mehr, stattdessen war ich glücklich.“

Als Folge konnte er den Alkoholkonsum deutlich reduzieren, so lange er Heroin nahm. Monate später realisierte Canal, dass er in eine Abhängigkeit gerutscht war. Er benötigte täglich Heroin, dann mehrmals täglich, sein Geld war aufgebraucht, die notwendigen Mittel mussten „beschafft“ werden. Die mit diesem Leben verbundenen Risiken waren ihm bewusst, ändern konnte er sie nicht.

„Meine Alternativen wären Alkoholtod oder Suizid gewesen. So betrachtet hat mir Heroin zu diesem Zeitpunkt das Leben gerettet“, sagt Canal. Eine Wende trat ein, als sämtliches Geld aufgebraucht und die Beschaffung immer problematischer wurde: „Ich war komplett pleite, hatte nichts mehr zu verkaufen und für den Überfall auf eine Apotheke oder eine Bank fehlte mir schlicht der Mut.“

Allerdings fehlte ihm auch das Vertrauen zu Ärzten und seine Erwartungen an eine Substitution waren gering. Dass er sich mit 31 Jahren dennoch eine substituierende Praxis wandte, lag an seiner ausweglosen Situation: „Ich wollte den Druck der Beschaffung loswerden und vor allem nicht mehr entzügig sein.“

Mit Behandlungsvertrag überfordert

In der Praxis wurde er mit einem Behandlungsvertrag konfrontiert, der ihn dieser Situation überforderte. „Ich war auf Entzug und die Aufklärung ging komplett an mir vorbei. Ich war nicht aufnahmefähig und hätte alles getan und alles unterschrieben, um an Methadon zu kommen. In einer solchen Situation darf man einen Menschen keinen Vertrag unterschreiben lassen“, sagt er.

Ich habe oft geschwankt und war unzufrieden. Ich wollte abbrechen, aber ich wusste, dass ich mir die Schwarzmarktpreise nicht leisten konnte..

Andreas Canal, Koordinator für Norddeutschland der Hilfsorganisation JES (Junkies – Ehemalige – Substituierte)

Nach der ersten Einnahme von Methadon ging es ihm sofort besser. „Das trat sofort ein, bevor es überhaupt wirken konnte. Es war eine reine Kopfsache.“ Später stellte sich dann der „Methadon-Rausch“ ein, den Canal aber als Enttäuschung wahrnahm, weil er so ganz anders ausfiel als unter Heroin. Er blieb trotzdem dabei: „In erster Linie war ich glücklich, weil es zumindest irgendein Rausch war. Und ich war endlich nicht mehr entzügig.“

Er wurde zwar auf andere Ersatzstoffe umgestellt, blieb aber in der Substitution. Später spielten dann perspektivische Überlegungen eine Rolle: „Ich habe mich gefragt, ob ich langfristig damit klar komme und was die Alternativen wären.“ Zweifel haben ihn im Laufe der Jahre immer wieder beschäftigt. „Ich habe oft geschwankt und war unzufrieden. Ich wollte abbrechen, aber ich wusste, dass ich mir die Schwarzmarktpreise nicht leisten konnte. Ich wollte auch nicht mehr, dass sich mein Leben nur noch um die Frage drehte, woher ich das Geld für das nächste Gramm oder den nächsten Beutel nehmen sollte.“

Immer wieder psychische Krisen

Auch seine psychischen Krisen kommen immer wieder. Eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, wie es für viele Menschen normal ist, bleibt schwierig. Das gilt auch für den Besuch von Arztpraxen. Er hat kein Verständnis, dass drogensüchtige Patienten oft nicht wie andere chronisch Erkrankte in Praxen versorgt werden. Ärzte außerhalb der Fachambulanz sucht er gar nicht mehr auf, weil er erwartet, stigmatisiert zu werden.

Getrennte Wartezimmer, wie es sie zum Teil bei substituierenden Ärzten gibt, empfindet er als diskriminierend. „Wir sind krank, nur mit einer anderen Problematik als andere Patienten“, sagt er. Das Thema treibt ihn so um, dass sich Canal in der Selbsthilfe engagiert. Er ist Koordinator für Norddeutschland für den JES (Junkies – Ehemalige – Substituierte) Bundesverband. Das Netzwerk setzt sich für eine regulierte Freigabe aller Substanzen und gegen Kriminalisierung und Stigmatisierung drogenbrauchender Menschen ein. Die Tätigkeit empfindet er als wichtig und erfüllend – vielleicht die erste in seinem Leben, die er so wahrnimmt.

Ihr Newsletter zum Thema
Mehr zum Thema

Schwierige Bedingungen im Bürgerkriegsland

Ärzte ohne Grenzen stellen im Sudan Arbeit in Klinik ein

DSO appelliert an Ärzte und Politik

Wieder weniger Organspenden in Deutschland

Das könnte Sie auch interessieren
Glasglobus und Stethoskop, eingebettet in grünes Laub, als Symbol für Umweltgesundheit und ökologisch-medizinisches Bewusstsein

Klimawandel und Gesundheitswesen

Klimaschutz und Gesundheit: Herausforderungen und Lösungen

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Ein MRT verbraucht viel Energie, auch die Datenspeicherung ist energieintensiv.

© Marijan Murat / dpa / picture alliance

Klimawandel und Gesundheitswesen

Forderungen nach Verhaltensänderungen und Verhältnisprävention

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Ein Dialogforum von Fachleuten aus Gesellschaft, Gesundheitspolitik und Wissenschaft

© Frankfurter Forum für gesellschafts- und gesundheitspolitische Grundsatzfragen e. V.

Das Frankfurter Forum stellt sich vor

Ein Dialogforum von Fachleuten aus Gesellschaft, Gesundheitspolitik und Wissenschaft

Kooperation | In Kooperation mit: Frankfurter Forum
Vitamin-B12-Mangel frühzeitig behandeln!

© Aleksandr | colourbox.de

Fatal verkannt

Vitamin-B12-Mangel frühzeitig behandeln!

Anzeige | WÖRWAG Pharma GmbH & Co. KG
Aktuelle Empfehlungen für die Praxis

© polkadot - stock.adobe.com

Vitamin-B12-Mangel

Aktuelle Empfehlungen für die Praxis

Anzeige | WÖRWAG Pharma GmbH & Co. KG
B12-Mangel durch PPI & Metformin

© Pixel-Shot - stock.adobe.com

Achtung Vitamin-Falle

B12-Mangel durch PPI & Metformin

Anzeige | WÖRWAG Pharma GmbH & Co. KG
Kommentare
Sonderberichte zum Thema
Dr. Antigone Fritz und Hubertus Müller sitzen trocken am PC. Dort zu sehen: ein Bild vom Hochwasser in Erftstadt vor drei Jahren.

© MLP

Gut abgesichert bei Naturkatastrophen

Hochwasser in der Praxis? Ein Fall für die Versicherung!

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: MLP
Protest vor dem Bundestag: Die Aktionsgruppe „NichtGenesen“ positionierte im Juli auf dem Gelände vor dem Reichstagsgebäude Rollstühle und machte darauf aufmerksam, dass es in Deutschland über drei Millionen Menschen gebe, dievon einem Post-COVID-Syndrom oder Post-Vac betroffen sind.

© picture alliance / Panama Pictures | Christoph Hardt

Symposium in Berlin

Post-COVID: Das Rätsel für Ärzte und Forscher

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: vfa und Paul-Martini-Stiftung
Krisenkommunikation war Schwachpunkt in der Pandemie

© HL

Herbstsymposium der Paul-Martini-Stiftung

Krisenkommunikation war Schwachpunkt in der Pandemie

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: vfa und Paul-Martini-Stiftung
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Zusätzlich zu Feinstaub und Tabak

Radon könnte Risiko für Gestationsdiabetes erhöhen

Lesetipps
Porträt eines lächelnden Arztes, der den Bauch eines kleinen Jungen untersucht und ihn auffordert zu sagen, wo es weh tut.

© Seventyfour / stock.adobe.com

Klinische Präsentation bei Kindern

Akute Appendizitis: Besonderheiten bei Vorschulkindern