Aachener Depressive werden zum Zankapfel
Ärzte in Aachen sind empört. Der Grund: Die AOK Rheinland/Hamburg will einen IV-Vertrag zur Versorgung psychisch Kranker kündigen. Sie sieht keinen Nutzen für Patienten. Die Ärzte widersprechen vehement.
Veröffentlicht:KÖLN (iss). Ärger und Unverständnis bei Ärzten aus Praxis und Klinik in Aachen: Die AOK Rheinland/Hamburg will den Integrationsvertrag zur besseren Versorgung von Patienten mit Depression und anderen psychischen Erkrankungen kündigen. Während die Kasse den Erfolg des Versorgungskonzepts in Frage stellt, sind die Mediziner vom Sinn des Konzepts nach wie vor überzeugt.
Behandlungsziel: sektorübergreifend und leitliniengerecht
Ziel des Vertrags "Integrierte Versorgung Seelische Gesundheit" ist die abgestimmte, sektorenübergreifende und leitliniengerechte Behandlung der Erkrankten. Gestartet ist das Konzept im Jahr 2006 mit dem Krankheitsbild Depression.
Zu den zentralen Bausteinen gehören sektorübergreifende Qualitätszirkel und die gezielte Schulung der niedergelassenen Haus- und Fachärzte, damit sie die Depression möglichst frühzeitig erkennen und die Patienten in ihren Praxen versorgen können. Für die zusätzlich zur Regelversorgung erbrachten Leistungen zahlen die Kassen eine Pauschale pro Patient und Quartal.
Keine Gespräche vor der Kündigung
"Es ist ein Projekt, von dem eigentlich alle Beteiligten begeistert sind", sagt einer der Initiatoren, Professor Frank Schneider, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Universitätsklinikum Aachen.
Für die drohende Beendigung hat er kein Verständnis. Schneider ärgert insbesondere, dass der Vorstandsvorsitzende der AOK Rheinland/Hamburg Wilfried Jacobs im Vorfeld der Kündigung jedes Gespräch verweigert habe. "Wenn er Probleme mit dem Vertrag hat, hätten wir doch darüber reden können." Vorher sei zu keinem Zeitpunkt Kritik geäußert worden.
Gegenüber der "Ärzte Zeitung" bestätigt Jacobs, dass die Kasse zum Jahresende aus dem Vertrag aussteigen wird. "Wir kündigen aus formalen Gründen, um dann in Nachverhandlungen eintreten zu können", sagt er.
AOK zweifelt Vertrag an
Es sei übliche Praxis, bei Integrationsverträgen regelmäßig die Inhalte und das Erreichen der vereinbarten Ziele zu überprüfen. "Wir müssen wissen, ob der Vertrag den Patienten erkennbare Vorteile gebracht hat und wenn ja, welche."
Beim Konzept "Seelische Gesundheit" in Aachen hat Jacobs offensichtlich Zweifel. "Wir sind nicht sicher, ob der Vertrag richtig angelegt ist." Ein Grund für die Skepsis sei, dass der angestrebte Rückgang der Krankenhauseinweisungen bei Patienten mit Depression nicht erreicht worden sei. Auch sei der erhoffte Nutzen für die Patienten nicht erkennbar, sagt Jacobs.
Die Nachverhandlungen seien ergebnisoffen. "Es kann sein, dass der Vertrag nicht verlängert wird." Die AOK Rheinland/Hamburg werde auch noch einige weitere Integrationsverträge kündigen, sagt er. "Vom Instrument der integrierten Versorgung sind wir aber nach wie vor überzeugt." Die Kasse habe so viele Verträge wie keine andere im Rheinland und werde auch neue abschließen, betont Jacobs.
Heftige Vorwürfe an die AOK
Seine Kritik an dem Vertrag kann Mediziner Schneider nicht nachvollziehen, gerade was den angeblich ausgebliebenen Rückgang bei den Klinikeinweisungen angehe. "Unser Problem ist, dass die AOK nicht bereit ist, Geld für eine richtige Evaluation auszugeben."
Es fehle der Vergleich aller IV-Patienten mit einer wissenschaftlichen Kriterien genügenden Vergleichsgruppe. So berücksichtige die AOK offenbar nicht, dass durch den Vertrag viele zusätzliche Patienten entdeckt und der Versorgung zugeführt wurden.
Arbeit war offenbar umsonst
Im Konsens mit AOK-Vertretern hätten die beteiligten Ärzte das Projekt für die Krankheitsbilder Psychose und Demenz weiterentwickelt. Die darin investierte Arbeit war jetzt umsonst, ärgert sich Schneider.
Was ihn aber besonders schmerzt, sind die Folgen für die betroffenen Patienten. "Wir müssen ihnen sagen, dass der Vertrag zum Ende des Jahres zu Ende geht, und sie dann wieder in die Regelversorgung müssen."
Rund 80 Prozent der teilnehmenden Versicherten seien bei der AOK, die Ärzte könnten die notwendige Infrastruktur nicht allein aufrechterhalten.
"Sektoren haben übergreifend kooperiert"
Auf Angebote wie die 24-Stunden-Hotline, Psychoedukation, die erweiterte Therapie und Diagnostik sowie schnellere und häufigere Behandlungstermine müssten die Betroffenen künftig verzichten, kritisiert auch Dr. Frank Bergmann, niedergelassener Nervenarzt in Aachen und Vorsitzender des Berufsverbands Deutscher Nervenärzte: "Hier wird ein Vertrag gekündigt, der den Patienten Vorteile gebracht hat und bei dem die Sektoren wirklich übergreifend zusammengearbeitet haben".
Bei den Beiratssitzungen habe die AOK selbst mehrfach bestätigt, dass sich das Konzept bewährt habe. Über mögliche Änderungen sei bereits gesprochen worden. Warum die Kasse jetzt kündigen wolle, kann auch er nicht nachvollziehen. "Das zeigt mir, dass die Vertragspolitik offensichtlich beliebig ist und sich nicht an Versorgungsinhalten orientiert."
Ein solches Ende nach sechs Jahren Vertragspartnerschaft sei stillos, sagt Bergmann. "Warum die AOK sich ausgerechnet aus diesem Vertrag zurückzieht, bleibt wohl das Geheimnis von Herrn Jacobs."