Brexit

Ärzte fordern zweites Referendum

Die Regierung May ist völlig ahnungslos, was der Brexit für das Gesundheitssystem bedeutet, heißt es auf dem britischen Ärztetag.

Arndt StrieglerVon Arndt Striegler Veröffentlicht:
Die größte britische Ärztevereinigung ist gegen die Pläne der Regierung, der europäischen Gemeinschaft den Rücken zukehren.

Die größte britische Ärztevereinigung ist gegen die Pläne der Regierung, der europäischen Gemeinschaft den Rücken zukehren.

© Lucian Milasan / stock.adobe.com

LONDON. Paukenschlag beim britischen Ärztetag: Der Brexit "ist schlecht für Großbritanniens Volksgesundheit" und daher sollten die Wähler vor dem Ausscheiden des Königreichs aus der EU im kommenden März die Chance erhalten, bei einem zweiten Brexit-Referendum zu entscheiden, ob sie tatsächlich raus wollen. Mit dieser Forderung überraschte am Donnerstag die größte britische Ärztevereinigung (British Medical Association, BMA).

Diverse Redner sprachen bei der Jahresversammlung der BMA im südenglischen Seebad Brighton teils sehr engagiert und temperamentvoll über das, was es für britische Arztpraxen und Kliniken bedeuten werde, aus der EU wirklich auszutreten. Am 29. März 2019 wird Großbritannien nach den bisherigen Plänen der Regierung May offiziell der europäischen Staatengemeinschaft den Rücken kehren.

In dem von den BMA-Delegierten mit Mehrheit angenommenen Antrag heißt es wörtlich, die Wähler sollten "eine neue Chance erhalten", zu entscheiden, ob Großbritannien tatsächlich aus der EU austreten solle. Begründung der Forderung nach einem zweiten Brexit-Referendum: "Wir wissen jetzt deutlich mehr als 2016, was ein Austritt bedeuten würde." Beim ersten Brexit-Referendum im Juni 2016 hatten die Briten mit denkbar knapper Mehrheit für einen EU-Ausstieg gestimmt.

Mangel an Fachpersonal wächst

In der britischen Ärzteschaft und im staatlichen britischen Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS) rumort es seit längerem, wenn es um das Thema Brexit geht. NHS-Kliniken melden schon heute, dass EU-Ärzte und Pflegepersonal das Land verlassen. Gleichzeitig scheint es zusehends schwierig, durch Brexit frei gewordene NHS-Stellen mit neuem qualifiziertem Fachpersonal zu besetzen.

In konkreten Zahlen sieht das so aus: Seit dem Brexit-Votum im Juni 2016 ist zum Beispiel die Zahl der aus anderen EU-Ländern nach Großbritannien kommenden Krankenpflegekräfte um 90 Prozent gesunken verglichen mit dem Zeitraum vor der historischen Abstimmung.

Wie aus Zahlen des Nursing and Midwifery Council (NMC) weiter hervor geht, sind aktuell noch rund 35.000 EU-Krankenschwestern und –pfleger im NHS registriert, um dort zu arbeiten. „Die zahl geht mehr und mehr zurück und wir wissen, daß es schon heute hunderte unbesetzte Stellen gibt“, so eine NMC-Sprecherin vor Journalisten in London. „Wenn Brexit im kommenden März tatsächlich Realität wird, dann wird das alles noch viel schlimmer.“

"May ignoriert Folgen"

"Es ist traurige Tatsache, dass die Regierung von Theresa May vollkommen unvorbereitet und ahnungslos ist, was der Brexit für unser Gesundheitssystem und für die Gesundheit unserer Bürger bedeuten wird", so Dr. William Sapwell, der den in Brighton verabschiedeten Antrag eingebracht und zur Abstimmung gestellt hatte. Und: "Brexit ist ein desaströses Vorhaben, das unserem Land und unseren Bürgern schaden wird."

Es fiel auf, wie frenetisch die Ärzteschaft bei diesen und ähnlichen Anti-Brexit-Stellungnahmen applaudierte. Interessant: der britische Gesundheitsminister Jeremy Hunt hatte in jüngster Zeit mehrfach öffentlich gefordert, EU-Ärzte und Krankenpflegekräfte müssten „auf jeden Fall auch nach Brexit gusseiserne Garantien“ für ein ständiges Aufenthalts- und Arbeitsrecht in Großbritannien erhalten. Hunt wörtlich: Dieses Recht muß jetzt schnell und dann für immer gelten.“

 Doch Premierministerin Theresa May weigert sich beharrlich, konkrete Zukunftsgarantien für Gesundheitsberufe aus der EU zu geben. Zwar verlangten vor wenigen Tagen diverse Minister des Kabinetts May, Ärzte, Krankenschwestern und -pfleger und andere Gesundheitsberufe nach dem Brexit-Day nicht länger dem jährlich zur Verfügung stehenden Arbeitserlaubnis-Visaprogramm zuzurechnen. Doch die Regierungschefin weigert sich bislang, dies zu tun, denn sie fürchtet offenbar eine Revolte in ihrer eigenen Partei.

"Jetzt haben wir den Salat!"

Die Tatsache, dass mit der BMA jetzt auch die größte und einflußreichste Berufsorganisation von Medizinern im Königreich öffentlich eine dramatische Umkehr der bisherigen Brexit-Strategie verlangt, zeigt nach Ansicht gesundheitspolitischer Beeobachter, wie vergiftet das Klima im Königreich ist. Die BMA hatte bereits vor der Abstimmung im Juni 2016 öffentlich und eindringlich vor den Folgen des Brexit für den NHS gewarnt. Doch diese Warnungen waren von EU-gegnern stets als „Panikmache“ verworfen worden.

 „Jetzt haben wir den Salat! Niemand hätte vorher sagen können, wie schädlich, kompliziert und verrückt ein EU-Austritt tatsächlich sein wird. Um den Super-GAU für den Gesundheitsdienst doch noch abzuwenden, bedarf es schnell drastischer Schritte“, so ein Londoner Stationsarzt zur „Ärzte Zeitung“. Er arbeitt in einem staatlichen Krankenhaus und kann auf seiner Station zahlreiche ungefüllte Ärztestellen mangels Bewerbern nicht neu besetzen.

Unterdessen wächst die Unsicherheit bei deutschen und anderen EU-Ärzten in Großbritannien. Wie die Organisation „the 3 million“ im Gespräch mit der „Ärzte Zeitung“ am Wochenende in London sagte, gebe es nach wie vor „mehr als 150 ungeklärte Fragen“, was zum Beispiel die künftigen Rechte von EU-Bürgern im Königreich betreffe. „Wir sind sehr besorgt“, so Sprecherin Maike Bohn. Und: „92 Prozent der EU-Ausländer in Großbritannien fühlen sich unsicher, was ihre Zukunft im Königreich anbelangt.“

Die Organisation, die die Rechte von rund 3,6 Millionen in Großbritannien lebenden und arbeitenden EU-Ausländern vertritt, rechnet damit, dass jeder zweite EU-Bürger derzeit daran denke, das Land zu verlassen. „je näher der Brexit-Tag rückt, desto mehr EU-Bürger werden Panik bekommen und das Weite suchen!“, erwartet Bohn.

Lesen Sie dazu auch: Nur noch neun Monate: Was passiert, wenn sich der Brexit-Schlagbaum senkt?

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