Gastbeitrag von Franz Müntefering
„Altenheimbewohner dürfen nicht isoliert werden!“
Bewohner von Altenheimen treffen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie besonders hart. Besuche sind nur eingeschränkt möglich oder ganz untersagt, und selbst im Sterben blieben Senioren beim ersten Lockdown von ihren Liebsten getrennt. Das darf sich nicht wiederholen!
Veröffentlicht:Das Sterben als letzte Phase des individuellen Lebens rückt in der Pandemie wieder näher an den Alltag der Gesellschaft heran.
Etwa 950.000 Menschen sterben jährlich in unserem Land. Aufgrund des demografischen Wandels wird diese Zahl in den nächsten Jahrzehnten noch deutlich steigen. Das hat uns bisher nicht sonderlich beschäftigt, im Gegenteil, die demografischen Veränderungen bedeuten ja Aussicht auf ein individuell langes Leben bei relativ guter Gesundheit für viele. Das ändert nichts daran, dass das Sterben immer eine persönliche Katastrophe und mit viel Leid und Trauer verbunden ist. In seiner Unabwendbarkeit jedoch ist es n natürlich.
Der Schock beim Ausbruch der Corona-Pandemie war entsprechend: Eine plötzliche, ungeahnte tödliche Gefahr, gegen die offensichtlich kein wirkungsvolles Gegenmittel verfügbar war. Die Bilder aus Bergamo zeigten die Realität und hatten Wirkung. Panik, Angst, Hilflosigkeit, aber auch der entschlossene Versuch, zu retten, was zu retten war und ist.
Dass dabei die Alten pauschal schnell als „vulnerabel“ eingeordnet wurden und die Jungen weitgehend als „nichtbetroffen“, führte zu Verwerfungen, die nachwirken. Was sollen die nicht pflegebedürftigen Alten davon halten, die ganz überwiegend ihren pragmatischen Beitrag leisten, sich nicht selbst zu infizieren und auch andere nicht: Abstand halten, Maske tragen und „Gehirn einschalten“. Von wegen Risiko-Gruppe! Im Gegenteil: ganz überwiegend stabiler Faktor. Vernünftig.
Kindergärten, Schulen, Restaurants, Hotels und Geschäfte wurden zeitweise geschlossen. An einem Ort allerdings war die Ausgangslage anders: in Altenheimen und Pflegeeinrichtungen. Dort konnten die Menschen nicht einfach nach Hause geschickt werden oder ein „Eintrittsverbot“ bekommen, denn das Heim ist ihr Zuhause. Hier wohnen und leben sie.
Und so wurden diese Einrichtungen – nicht alle, aber viele – für Außenstehende geschlossen, womit der gewohnte und für viele Bewohnerinnen und Bewohner lebenssinnstiftende regelmäßige Besuch von Menschen, die ihnen nahe und wichtig sind, unterbrochen und untersagt wurde.
Im Sterben allein – mit der Würde nicht vereinbar
Und selbst im Sterben blieben alte Menschen von den ihnen nächsten Menschen getrennt. Eine beschämende Rohheit. Mit unserem Recht und der gerne zitierten Würde des Menschen nicht vereinbar.
Dabei ging es und geht es um die, die sterben, aber auch um die, die bei ihnen sein möchten. Für beide – Sterbende und Partnerin, Partner, Familie, Freundinnen, Freunde – ein verwehrter Abschied, den man nicht nachholen kann. Das Sterben eines Menschen geht immer alle an, die in dieser endlichen Lebensphase beieinander sein wollen, weil sie sich eng verbunden wissen. Bei manchen schließt das auch die Seelsorge ein.
In der Sommerzeit 2020 entspannte sich die Lage, auch in den Heimen, den meisten jedenfalls. Aber seit Oktober und November gibt es wieder verstärkte Meldungen über einen neuerlichen Isolierungskurs. Allerdings haben einige Länder und Kommunen in der Zwischenzeit die Schutzmaßnahmen präzisiert und eine völlige Kontaktsperre in extremen Situationen wie dem Sterben ausgeschlossen. Das ist gut und hat wohl dazu beigetragen, dass akut keine Meldungen über Besuchsverweigerung bei Sterbenden bekannt werden.
Wir fordern als BAGSO – Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen – noch einmal alle (!) Verantwortlichen auf: Sterbende dürfen auf gar keinen Fall isoliert werden, nahe Verwandte und Bekannte auf gar keinen Fall bei mit ihrem Besuchswunsch abgewiesen werden!
Besuchsbeschränkungen sind Eingriffe in Grundrechte
Damit ist das Thema aber nicht zu Ende. Auch die Isolation von Menschen in Heimen, die nicht in der Phase des Sterbens sind, muss definitiv schnell abgebaut und ersetzt werden durch eine tägliche und weitgehende Besuchsregelung. Besuchsbeschränkungen sind Eingriffe in die Grundrechte. Sie sind auch in Corona-Zeiten zulässig, wenn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet wird. Die negativen Auswirkungen auf die Gesundheit müssen dabei berücksichtigt werden. Isolation kann für Menschen im Heim zur psychischen und physischen Marter werden und sogar lebensgefährlich sein.
Ich zitiere den Mainzer Juristen Prof. Dr. Friedhelm Hufen, bei dem die BAGSO ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben hatte: „Wichtiger als die verfassungsrechtliche Beurteilung der Situation im März 2020 ist die Verhinderung erneuter verfassungswidriger Zustände.“ Und er stellt noch einmal nachdrücklich fest, dass Schutzmaßnahmen „nicht zur vollständigen Isolation der Betroffenen führen dürfen“. Ein Mindestmaß an sozialen Kontakten muss also gewährleistet bleiben.
Das zeigt die Perspektive auf, und dahinter dürfen die Länder und Kommunen als die für die Schutzmaßnahmen Verantwortlichen nicht zurückfallen.
„Mindestmaß“ ist dabei immer quantitativ und qualitativ zu verstehen: Es geht um Häufigkeit, Dauer und Form. Um regelmäßige und ausreichende Besuchszeit im jeweils eigenen Zimmer. Und um den emotionalen Kontakt, der erlaubt sein und möglich sein muss. Das gilt nachdrücklich auch für kognitiv geschwächte und demente Menschen, die nur so den ganz persönlichen Kontakt erleben können, den sie suchen und brauchen.
Vorgaben müssen zur Realität passen
Auch wenn wir guten Willen auf allen Seiten und bei allen Beteiligten unterstellen, bleibt doch ein neuralgischer Punkt, der sehr komplex ist und an dem alle Beteiligten gemeinsam (!) arbeiten müssen. Die verfügten Schutzmaßnahmen und die Realität in den Heimen und Einrichtungen müssen kompatibel sein oder schnell kompatibel gemacht werden können. Sonst gehen die Übersichtlichkeit sowie Planungssicherheit und letztlich wichtiges Vertrauen in staatliches Handeln und in unsere Demokratie verloren.
Die Exekutive muss somit bei den verfügten Schutzmaßnahmen die Grundrechte garantieren, sie muss aber auch gleichzeitig sicherstellen, dass ihre Vorgaben nicht an den Realitäten der Heime scheitern. Exekutive und Heime müssen abgestimmt und erkennbar in Übereinstimmung agieren. Andernfalls erscheinen die Heime als unwillig oder unfähig, den Anordnungen zu entsprechen. Das wäre nach unserem Eindruck insgesamt falsch und ungerecht.
Es kann keinen Zweifel geben, dass in den Heimen Frauen und Männer täglich und stündlich mit ganzer Kraft und weit über den Regeldienst hinaus Dienst tun an den und für die Menschen, die in ihrem Haus wohnen und leben. Die sie pflegen und die sie vor Infektionen schützen wollen. Und denen sie helfen, diese schwere Zeit zu überstehen. Das gilt für Leitung, Pflegekräfte und Hilfskräfte gleichermaßen.
Ihnen allen Dank und Anerkennung! Deshalb ist es so wichtig,
- dass Heimleitungen – mehr noch als die Träger der Einrichtungen – in die Abwägung der konkreten Schutzmaßnahmen einbezogen werden, um so deren Umsetzbarkeit und die Vorbedingungen realistisch einschätzen zu können;
- dass Heimen zügig geholfen wird, objektive Schwierigkeiten bei der Umsetzung zu beheben;
- dass Heime nicht mit vorschnellen Ankündigungen staatlicher Stellen konfrontiert werden, die noch nicht vollumfänglich umsetzbar sind, wie es zum Beispiel beim Thema Schnelltest passiert. Der damit verbundene Ärger landet überwiegend bei den Heimen und Einrichtungen. Und das ist keine Bagatelle: Es ist wichtig, dass die Menschen Vertrauen in deren Arbeit haben können. Dazu muss der Staat mit seinen Möglichkeiten beitragen;
- dass in Heimen verantwortungsvolle Freundschaften und Bekanntschaften, die sich dort zwischen Bewohnern bilden, gestützt und nicht durch systematische Vereinzelung unwirksam gemacht werden.
Einsamkeit kann tödlich sein
Zur Aufrichtigkeit und damit Glaubwürdigkeit in dieser Debatte gehört auch: Das Problem des einsamen Sterbens beginnt nicht erst mit Corona.
Unter den Ein-Personen-Haushalten – um die fünfzig Prozent in großen Städten – sind mit einigen Prozent auch alte Menschen, die physisch und psychisch nicht mehr in der Lage sind, gezielt soziale Kontakte zu halten oder neu aufzubauen.
Auch hier wird zu oft einsam und allein gestorben, manchmal sogar völlig unbemerkt von der Umwelt – ohne dass wir uns als Gesellschaft damit besonders befassen würden. Zur Klarstellung: Damit ist nicht das Geschehen in manchen Heimen in diesem Jahr gerechtfertigt, sondern umgekehrt müssen wir als Gesellschaft jetzt und auch nach dem Ende der Pandemie Wege suchen und gehen, das weitgehende Desinteresse im Alltag an diesem Problem zu überwinden und Lösungen zu finden. Auch die einsamen Menschen außerhalb der Heime dürfen in ihrer letzten Lebensphase nicht isoliert sein.
Jeder Mensch, auch wer keine „wichtigsten nahen Verwandten und Bekannten“ hat, sollte die gute Erfahrung machen, dass andere Menschen mit ihm leben wollen, mindestens, dass sie ihn nicht vergessen, dass er sie interessiert. Was empfinden einsam Sterbende in Corona-Zeiten im Heim oder zu anderen Zeiten in ihrer Wohnung, wenn sie Wochen, Tage, Stunden ohne nahe Menschen an ihrer Seite bleiben? Man weiß es nicht und will nicht mutmaßen. Aber vorstellen kann man es sich schon.
Oft beginnt diese Einsamkeit auch nicht erst in der faktischen Sterbephase oder im hohen Alter, sondern irgendwann, wenn niemand einen wirklich ansieht, niemand Interesse zeigt, niemand mit einem spricht. Solche Einsamkeit kann tödlich sein. Auch daran erinnert uns Corona.
Franz Müntefering ist Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO). Der 1940 in Arnsberg geborene Industriekaufmann trat 1966 in die SPD ein, deren Bundesgeschäftsführer, Generalsekretär und Bundesvorsitzender er war. Unter Kanzler Schröder war Müntefering zudem Bundesverkehrsminister, im Kabinett Merkel Vizekanzler und Bundesarbeitsminister.